Mitte Mai tritt Jérôme Cosandey einen neuen Job an. Er wird Leiter der Direktion für Arbeit und Mitglied des Geschäftsleitungsausschusses des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Der Neuenburger beendet damit sein langjähriges Engagement als Forschungsleiter Sozialpolitik der Denkfabrik Avenir Suisse. «Ein guter Moment für ein Résumé über die private und berufliche Vorsorge in der Schweiz» schreibt Arno Schmocker zu seinem Interview mit Cosandey in der Finanz und Wirtschaft. Auszüge:
Wie liesse sich das System [3 Säulen] verbessern bzw. flexibilisieren?
In der letzten AHV-Reform sind flexible Elemente für die Versicherten eingebaut worden. Man kann eine Teilrente beziehen oder einfacher früher oder später in Rente gehen. Bei der zweiten Säule war das schon möglich. Dort plädieren wir dafür, dass Versicherte mehr Mitsprache bei der Wahl der Anlagestrategie oder der Pensionskasse erhalten.
Aber auch die Vorsorgeeinrichtungen sind flexibler geworden. Neun von zehn Kassen haben die Hausaufgaben gemacht. Zum einen haben sie die Absicherung von Teilzeitangestellten verbessert. Zum anderen haben sie den Umwandlungssatz korrigiert, um die systemwidrige Quersubventionierung von Jung zu Alt zu reduzieren.
Die letzte Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) ist 2024 an der Urne abgeschmettert worden. War das also kein grosses Unglück?
Nun, es gibt immer noch etwa 15% der Arbeitnehmer, die in einer BVG-Kasse ohne überobligatorischen Teil versichert sind. Das ist unschön, weil diese Kassen gesetzliche Leistungen garantieren müssen, die mit realitätsfremden Parametern bestimmt sind. Doch ihre Zahl sinkt, weil es sich immer weniger Arbeitgeber mit Blick auf den Fachkräftemangel leisten können, nur eine reine BVG-Lösung anzubieten.
Ich gehe davon aus, dass in einigen Jahren 95% der Pensionskassen auch einen überobligatorischen Teil versichern. Dann stellt sich die Frage, wie teuer eine Reform noch werden darf. Deshalb wird politisch in den kommenden Jahren nicht viel laufen.
In der AHV ist der Korrekturbedarf am grössten. Bis im Sommer will die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ein umfassendes Reformpaket zur Stabilisierung der ersten Säule bis 2040 vorlegen, und zwar «ohne Tabus». Welche Elemente müsste das Projekt «AHV 2030» enthalten?
Eine Erhöhung des Rentenalters sollte Teil der Lösung sein. Sie schont die Generationengerechtigkeit und wirkt doppelt: Man zahlt länger ein und bezieht weniger lang, als wenn das Rentenalter bei 65 bleibt. Wir könnten zum Beispiel die Hälfte der Lebenserwartung, die wir gewinnen, in Rente geniessen, die andere Hälfte länger arbeiten.
Müssten die Leute nicht auch mehr motiviert werden, länger zu arbeiten?
Der grösste Hebel, dass die Leute länger arbeiten, liegt bei den Unternehmen. Dazu braucht es Wertschätzung, einen sinnvollen Job und Teilzeitmöglichkeiten, wie Umfragen ergeben haben. Die Unternehmen tun noch wenig, um das Potenzial älterer Mitarbeiter zu nutzen. Dabei ist ein 66-Jähriger mit einem Medianlohn etwa 8% günstiger für den Arbeitgeber als ein 55-Jähriger. Für die Arbeitnehmer gibt es schon Anreize. Ab 65 beginnt die AHV-Pflicht erst ab einem Monatsverdienst von 1400 Fr. Die berufliche Vorsorge ist freiwillig, und Abzüge für die Arbeitslosenversicherung gibt es nicht mehr.
Ist es mittlerweile nicht so, dass die Renten aus der ersten und zweiten Säule den letztbezahlten Lohn häufig nicht einmal zu 60% decken?
Wir haben monatelang versucht, die Ersatzquote zu schätzen. Es beginnt schon mit der Frage: Welches war das letzte Einkommen? Was, wenn jemand während der letzten vier Jahre nur noch 60% gearbeitet hat? Die Ersatzquote ist gemäss einer Modellrechnung von Swisscanto seit sechs Jahren relativ stabil bei 70% geblieben – die Vorgaben der Bundesverfassung sind also in der Theorie erfüllt. Aber gibt es Pausen im Erwerbsleben, fehlt in der Praxis Kapital.
FuW
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