Seit zwei Monaten steht Doris Bianchi an der Spitze des Bundesamts für Sozialversicherungen. In einem Interview mit CHSS äussert sie sich u.a. zur Situation der beruflichen Vorsorge und zur Frage des Rentenalters. Auszüge:
In der zweiten Säule ist die BVG-Reform letztes Jahr deutlich gescheitert. Grosse Reformen scheinen schwierig.
Ja, schon drei Reformversuche sind gescheitert. Wir befinden uns in der zweiten Säule in einem Dilemma: Wenn man die Vorsorge für tiefe Einkommen verbessern will, kommt man um eine Anpassung des Mindestumwandlungssatzes nicht herum. Aber genau diese Anpassung erfordert Kompensationsmassnahmen – und die sind teuer, gerade für tiefe Einkommen. Das wiederum findet politisch kaum Mehrheiten.
Was ist zu tun?
Am erfolgversprechendsten in der beruflichen Vorsorge scheinen mir strukturelle Reformen. Die Mehrheit der Versicherten ist mittlerweile in Sammeleinrichtungen versichert. Denn viele Unternehmen haben ihre berufliche Vorsorge an solche Einrichtungen ausgelagert, die untereinander im Wettbewerb stehen. Diese neue Marktstruktur muss aber weiterhin als Teil der Sozialversicherung verstanden werden – und nicht als Geschäftsmodell. Hier braucht es aus meiner Sicht eine gesetzliche Klärung und so die stärkere Ausrichtung als Sozialversicherung.
Die gescheiterte BVG-Reform setzte etwa auf einen tieferen Koordinationsabzug, um die Vorsorge für kleine Einkommen zu verbessern. Wie beurteilen Sie das?
Eine Ausweitung des Obligatoriums führt zu höheren Lohnkosten für die Unternehmen – und zu tieferen Nettolöhnen für die Arbeitnehmenden. Beides sind Massnahmen, die nicht besonders beliebt sind. Die Branchen, die sich das leisten können, haben den Koordinationsabzug in den letzten Jahren ohnehin schon gesenkt. Dementsprechend ist auch der Druck für eine Gesetzesanpassung nicht mehr so gross. Kommt hinzu: Für tiefe Einkommen ist die AHV die effizientere Absicherung, weil sie im Gegensatz zur zweiten Säule solidarisch finanziert ist. Das ist in unserem Mehrsäulensystem auch so gewollt: Die AHV funktioniert besonders gut für tiefe Einkommen, während die Stärken der zweiten Säule bei höheren Einkommen zum Tragen kommen.
Lässt sich das Referenzalter langfristig bei 65 Jahren halten?
Das Referenzalter wurde erst mit der jüngsten AHV-Reform im Jahr 2024 eingeführt. Es betont die Flexibilität beim Rentenbezug zwischen 63 Jahren und 70 Jahren. Nun gilt es Erfahrungen zu sammeln: Führen die neuen Instrumente dazu, dass Menschen, die noch motiviert und leistungsfähig sind, über 65 Jahre hinaus arbeiten? Denn das ist matchentscheidend für künftige Diskussionen über eine allfällige Erhöhung des Referenzalters. Ohne diese gelebte Realität wird es schwierig, dafür eine Mehrheit zu finden. Was man aber bereits sagen kann: Die Diskussion rund um das Referenzalter hat auch der Frage nach der Lebensarbeitszeit neuen Schub gegeben. Je nach Beruf und körperlicher Belastung sind individuellere Abstufungen denkbar.
CHSS
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