Quelle: BFS, Abbildung ChatGPT 5.5
Die neuen Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) zur Geburtenrate zeigen deutlich: Sie sinkt und das in beschleunigtem Tempo. Die längerfristigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen – auch für die Altersvorsorge – liegen auf der Hand.
Trotzdem wurden sie medial wenig beachtet. Der NZZ waren sie lediglich einen Einspalter wert, in welchem die wenigen Daten der BFS-Mitteilung erwähnt und die Ausführungen des Bundesamts wiederholt wurden. Die Mühe, bspw. die auf der Website einsehbare Excel-Datei zu analysieren, mit Zeitreihen ab 1876 und auf sieben (7!) Kommastellen genau, hat man sich erspart. Dabei bietet die Website zahlreiche und höchst interessante Detailangaben zum Thema.
Der Tages-Anzeiger wählte das journalistisch kräfteschonende Vorgehen, sich auf die Aussagen einer Expertin zu verlassen, welche möglichst die eigene Meinung teilt. Im speziellen Fall bezog sie sich auf persönliche Erfahrungen und erklärte, ein Einzelkind sei einfacher grosszuziehen und erlaube eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das war für die Mehrheit der Leserinnen wohl keine Überraschung.
Der individuelle Aspekt von Geburten und Kinderzahl steht zweifellos im Vordergrund, aber die kollektiven Konsequenzen betreffen jeden Einzelnen. Und diese dürften weit dramatischer ausfallen, als man sich das heute eingestehen will.
David Runciman, prominenter Professor für politische Wissenschaften an der Universität Cambridge, kommentiert in der Oktober-Ausgabe der London Review of Books unter dem Titel «Are we Doomed?» drei kürzlich erschienene Bücher zum Thema Geburtenrückgang. Schon die Titel lassen erkennen, was hier auf die Menschheit zukommt: “After the Spike: The Risks of Global Depopulation and the Case for People” von Dean Spears and Michael Geruso, “No One Left: Why the World Needs More Children” von Paul Morland und “The Decline and Fall of the Human Empire: Why Our Species Is on the Edge of Extinction” von Henry Gee.
Runciman schreibt im ersten Abschnitt, mit einer drastischen Nebenbemerkung (Übersetzung DeepL):
«Die Menschen leben länger als früher. Ausserdem bekommen sie weniger Kinder. Die Auswirkungen dieser Kombination auf die Gesellschaft werden weltweit immer deutlicher, aber einige der auffälligsten Beispiele dafür kommen aus Japan. Seit Jahrzehnten veröffentlicht das japanische Gesundheitsministerium eine jährliche Statistik über Bürger, die hundert Jahre oder älter sind. In diesem Jahr erreichte die Zahl der Hundertjährigen fast hunderttausend. Als die Erhebung 1963 begann, waren es nur 153. 1981 waren es tausend, 1998 zehntausend. Japan produziert heute mehr Windeln für inkontinente Erwachsene als für Säuglinge.
Es gibt eine boomende Branche für die Reinigung und Desinfektion von Wohnungen, in denen ältere japanische Bürger gestorben und die wochen-, monate- oder jahrelang unentdeckt geblieben sind. Ältere Menschen haben weit weniger jüngere Menschen, die sich um sie kümmern oder auch nur ihre Abwesenheit bemerken.
Diese Vernachlässigung ist die brutale Folge einfacher Mathematik. Im Jahr 1950 hatte Japan eine Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR) von 4, was der durchschnittlichen Anzahl von Kindern entspricht, die eine Frau im Laufe ihres Lebens voraussichtlich bekommen wird. Über fünf Generationen hinweg bedeutet dies ein Verhältnis von 256 Ururenkeln bei 16 Ururgrosseltern, mit anderen Worten: jeder Hundertjährige hatte 16 direkte Nachkommen, die sich um ihn kümmern konnten. Heute geht die TFR Japans gegen 1 Kind pro Frau. Wenn sich dieses Muster über fünf Generationen fortsetzt, bedeutet dies, dass jedes einzelne Kind bis zu 16 Ururgrosseltern hat, die um seine Aufmerksamkeit buhlen. Innerhalb eines Jahrhunderts wurde die Pyramide der menschlichen Verpflichtungen auf den Kopf gestellt.»
Die Folgen sind erst längerfristig spürbar, aber, wie am Beispiel Japan erkennbar, dann plötzlich und zum Teil höchst schmerzhaft. Unser dringendstes Problem in der Schweiz scheint nicht der Geburtenrückgang zu sein, sondern die enorme Zuwanderung. Die dramatische Überalterung (als Verhältnis von Jungen zu Alten) wird damit aber nicht wesentlich verringert. Und wie lange die Zuwanderung anhält, insbesondere von volkswirtschaftlich erwünschten Fachkräften, weiss niemand.
Der grosse Unterschied zwischen der Geburtenrate von Schweizerinnen und Ausländerinnen wird ebenfalls folgenreich sein. Das umso mehr, als sich unter den Ausländerinnen wiederum unterschiedliche Kategorien definieren lassen, und die Religionszugehörigkeit dabei eine entscheidende Rolle spielt. Was das für die Schweiz der Zukunft – das heisst in etwa 50 Jahren – bedeutet, lässt sich nur bedingt abschätzen, dürfte aber ebenfalls weitreichende Konsequenzen haben. Doch das ist eine andere Geschichte.
Peter Wirth, E-Mail

