Felix E. Müler, ehemaliger Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», plädiert in seinem Buch «Schafft die Pensionierung ab*» für eine umfassende Liberalisierung des Rentensystems. Alle sollten selbst bestimmen dürfen, wie lange sie arbeiten. Auszüge aus einem Interview mit Müller im Tages-Anzeiger:
Herr Müller, vergangenes Jahr haben mehr als 74 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Erhöhung des Rentenalters abgelehnt. Sie fordern nun in einem Buch, die Pensionierung gleich ganz abzuschaffen. Sind Sie unter die Utopisten gegangen?
Die Debatte über die Anhebung des Rentenalters ist ein Irrläufer. Es wird dafür niemals eine Mehrheit geben. Stattdessen sollte man das ganze System radikal liberalisieren. Das ist keine Utopie, sondern ein rationaler Vorschlag.
Was meinen Sie mit «radikal liberalisieren»?
Jeder Mensch soll selber entscheiden können, in welchem Alter er in den Ruhestand tritt. Mit diesem Ansatz würde die fruchtlose Debatte um die Erhöhung des Rentenalters endlich beendet.
Aber mehrheitsfähig ist Ihr Vorschlag erst recht nicht.
Da bin ich mir nicht so sicher. Das Angebot, dass jemand das Ende seiner Erwerbsphase in Absprache mit dem Arbeitgeber selbst bestimmen kann, ist durchaus attraktiv. Die Erwerbstätigen könnten in einem grösseren Ausmass frei über ihr Leben verfügen, als dies im Moment möglich ist.
Was spricht dafür, die Pensionierung abzuschaffen?
Es ist erstens ein volkswirtschaftlicher Unsinn, gesunde und arbeitsfähige Leute mit 65 zwangsweise in den Ruhestand zu schicken. Das gilt besonders in Zeiten, in denen ständig über Fachkräftemangel geklagt wird. Zweitens würden laut Umfragen nahezu die Hälfte der Beschäftigten gerne weiterarbeiten, können dies aber nicht, weil es ihnen der Arbeitgeber verunmöglicht oder weil es steuertechnisch ein Nachteil ist. Hinter dem heutigen System steckt auch eine völlig falsche Einstellung zum Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit.
Nämlich?
Die Arbeit als unwürdige Plackerei. Und danach beginnt das paradiesische Rentnerdasein, in dem man sich endlich verwirklichen kann. In Wahrheit leiden sehr viele Leute in der Pensionierung, weil sie nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Leben und ihrer Zeit anfangen sollen. Man muss sich bloss einmal die Zahlen zu Depressionen oder Alkoholismus im Alter anschauen. Bedenkt man, welche Bedeutung die Arbeit in modernen Gesellschaften hat, ist eines unbestreitbar: Das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess ist ein biografisch zentraler Moment. Ich halte es für störend und hochgradig altersdiskriminierend, dass die Firmen oder der Staat als Arbeitgeber den Zeitpunkt dieses Ereignisses unabhängig von individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten einfach festlegen.
In der Schweiz haben zwischen 15 und 20 Prozent der Pensionierten Mühe, finanziell durchzukommen. Menschen mit geringem Lohn könnten sich in Ihrem Modell genötigt sehen, weiterzuarbeiten, um dem Schicksal der Altersarmut zu entgehen.
Das System müsste so intelligent und grosszügig sein, um dies zu verhindern. Aber es gibt keinen plausiblen Grund, eine 65-jährige Juristin aus dem Arbeitsmarkt zu werfen, weil eine 62-jährige Verkäuferin verständlicherweise erschöpft ist.
Und noch ein Wort zu den Jungen.
Bitte.
Etwas überspitzt formuliert ist es doch heute so, dass man die Pensionierten, viele von ihnen Schweizerinnen und Schweizer, dank der Personenfreizügigkeit durch junge ausländische Fachkräfte ersetzt. Das ist ein volkswirtschaftlicher Unsinn sondergleichen. Die massive Zuwanderung hängt zumindest teilweise damit zusammen. Und dies wiederum ermöglicht es der SVP, mit populistischen Slogans Wahlerfolge zu erzielen.
Die Linke hat bei dieser Frage die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite.
Weil sie den Leuten suggeriert, sie würden etwas verlieren. Oder man würde ihnen etwas wegnehmen. Mit einer Abschaffung der faktischen Zwangspensionierung schenkt man den Leuten vielmehr etwas: Wahlfreiheit. Das gegenwärtige System ist allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung nicht aufrechtzuerhalten. Die Reformvorschläge der bürgerlichen Rentenpolitiker bewegen sich unoriginell nur innerhalb des bestehenden Systems. Sie sind auf die Erhöhung des Rentenalters fixiert – was in der Schweiz in absehbarer Zeit nicht mehrheitsfähig ist.
* Felix E. Müller: Schafft die Pensionierung ab. Eine Streitschrift. Voima-Verlag 2025, ca. 23 Franken. Erscheint am 25. 11. 2025.
Interview Müller
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