Statt komplizierter Reformen plädiert die Professorin Yvonne Seiler Zimmermann von der Hochschule Luzern für eine umfassende Neuausrichtung der zweiten Säule. Damit sie den Bedürfnissen der künftigen Arbeitswelt gerecht werden kann. Ihre Lösung: die freie Pensionskassen-Wahl. Welche Konsequenzen das hätte und wie sie organisiert werden soll, bleibt offen. Auszüge aus dem Interview mit er NZZaS.
Wie sehen Sie die zweite Säule in der Zukunft?
Im gesellschaftlichen Wandel unserer Zeit werden Megatrends wie Individualisierung, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gemäss Zukunftsforschung an Bedeutung gewinnen. In Kombination mit dem technologischen Fortschritt und der Langlebigkeit der Menschen führt das zu einer ganz anderen Arbeitswelt, in der selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Arbeiten, organisiert in Projekten und über Plattformen, im Zentrum stehen wird. Die Vorsorge muss sich diesen neuen Ansprüchen anpassen.
Wie könnte diese Anpassung konkret aussehen?
Wenn die Menschen länger und gesünder leben und ihr Erwerbsleben flexibler und damit individueller gestalten wollen, sollte der Eintritt und Austritt in und aus dem Erwerbsleben nicht nur durch Ausbildung und Referenzalter definiert werden. Dann ist es angezeigt, die geleistete Erwerbsarbeit an eine Lebensarbeitszeit zu binden und es den Menschen selbst zu überlassen, wann sie diese innerhalb ihres Lebenszykluses leisten.
Dafür müssten die Vorsorgewerke aber flexibler und administrativ vereinfacht werden …
Ja, und in der Konsequenz müssten sie auch neu organisiert werden. Denn arbeiten die Menschen vermehrt projektorientiert und als Pseudoselbständige für mehrere Arbeitgeber gleichzeitig, muss man sich fragen, ob der Arbeitgeber überhaupt noch in die Pflicht genommen werden sollte, die berufliche Vorsorge zu organisieren. Die konsequente Antwort wäre ein Nein, da der aktuarielle und organisatorische Aufwand riesig würde. Die natürliche Konsequenz wäre, dass man die Vorsorgelösung an die Versicherten knüpft.
Die dann auch die Pensionskassen frei wählen könnten?
Ja, entscheidend ist, dass man als Erwerbstätiger selbst in der Pflicht wäre, seine Vorsorge zu organisieren. Wie heute schon würden jedoch Arbeitgeber und -nehmer ihre Beiträge paritätisch leisten, unabhängig davon, ob es sich um eine Erwerbsleistung auf Basis eines Arbeitsvertrages oder einer selbständigen Tätigkeit handelt.
Dann würde es aber auch keinen Sinn mehr machen, dass wir mehr als 1300 verschiedene Pensionskassen im Land zählen.
Nun, in meiner liberalen Sicht der Dinge und in Anbetracht der Veränderung der Pensionskassenlandschaft der letzten Jahrzehnte kann man davon ausgehen, dass der Markt und der Wettbewerb spielen werden. Und mehr Wettbewerb hat zur Folge, dass man bessere Produkte zu tieferen Preisen erhält.
Halten Sie ein solches Modell für realistisch, vor allem vor dem Hintergrund, dass das Wissen um die Vorsorge bei den Versicherten eher bescheiden ausgeprägt ist?
Das mangelhafte Wissen um die Vorsorge steht in einem gewissen Widerspruch zu den Präferenzen der jüngeren Arbeitnehmenden, die grossen Wert darauf legen Beruf, Privatleben und Familie in Einklang zu bringen und im Leben und im Job über mehr Selbstbestimmung zu verfügen. Mit der Plicht, die eigenen Vorsorge selbst zu organisieren, steigt insbesondere auch der Anreiz, sich das erforderliche Wissen anzueignen.
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