Der im linken Spektrum anzusiedelnde Soziologe François Höpflinger macht sich keine Sorgen um die AHV oder den demographischen Wandel. Der sei ohnehin nur ein Übergangsproblem. Ist er aber nicht, weil bei einer Geburtenrate unter 2,1 die nachfolgende Generation laufend kleiner verglichen mit der vorangegangenen ausfällt. Die Bevölkerungsgrösse schrumpft stets weiter. Und solange zudem die Geburtenrate zurückgeht – und das tut sie praktisch weltweit – verschlechtert sich damit auch fortwährend das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Pensionierten (ceteris paribus). Erst bei einer stabilen Geburtenrate stabilisiert es sich. Davon kann derzeit keine Rede sein, weshalb auch nicht von einem «Übergangsproblem» gesprochen werden kann. Höpflinger macht sich vor allem Sorgen um die mangelnde soziale Gerechtigkeit und schlägt vor, die diversen Sozialversicherungszweige durch eine Grundversorgung zu ersetzen. Auszüge aus dem Interview im Tages-Anzeiger.
Herr Höpflinger, jetzt geht die Boomergeneration langsam in Rente, und die Frage der «Generationengerechtigkeit» wird virulent. In Deutschland wird ein Boomer-Solidaritätsbeitrag für reiche Rentner diskutiert. Ist der Aspekt «Generationengerechtigkeit» überhaupt der richtige Ansatz?
Sagen wir so: Die Rentenversprechen, die man einst jenen gab, die nun pensioniert werden, waren im Grunde zu gross. Durch die längere Lebenserwartung und weil sich die Einzahlungen auf weniger Schultern verteilen als früher, muss die Lücke durch die Menschen im Arbeitsleben aufgefangen werden: Das ist schon eine negative sozialpolitische Generationenbilanz. Aber es nur so zu betrachten, ist zu einseitig.
Welchen Blickwinkel schlagen Sie vor?
Zuerst den demografischen: Das Problem besteht ohnehin nur vorübergehend – bis die geburtenstarken Jahrgänge verstorben sind. Gerade ein reiches Land wie die Schweiz kann diese Phase von rund zwei Jahrzehnten mühelos stemmen. Die AHV ist gut aufgestellt. Katastrophenszenarien zu zeichnen, ist vor allem ein politisches Kampfmittel und eine Strategie der Finanzindustrie. Dies schon seit den 1990ern.
Was meinen Sie mit «politisches Kampfmittel»?
Die sogenannte Generationenbilanz ist sehr theoretisch und lenkt davon ab, dass die Oligarchisierung der Gesellschaft weit mehr Ungleichheit verursacht. Es stimmt, dass die Jungen heute besonders pessimistisch in die Zukunft schauen und sich machtlos fühlen, aber weniger wegen der «Generationenungerechtigkeit». Die Ungerechtigkeit innerhalb der gleichen Generation ist nämlich viel schlimmer, die Ungleichheit zwischen Arm und Reich viel grösser. Ein armer Rentner in der Schweiz stirbt zum Beispiel signifikant früher als ein reicher Rentner, der stets einen besseren Lohn hatte.
Sie meinen, dass die Rentenbelastung durch die Boomergeneration für die Gesellschaft finanziell gut tragbar wäre?
Durchaus. Zudem könnte man die Mehrwertsteuerprozente ein wenig erhöhen, die zahlten dann auch die Rentner.
Welche Optionen sehen Sie noch?
Man könnte sich eine vernünftige Erbschaftssteuer vorstellen, es ist ja derzeit die Boomergeneration, die erbt. Von den Finanzen her ist ein Austarieren gut möglich. Aber die politischen Rahmenbedingungen sind derart strukturkonservativ geworden, dass auch geringe Veränderungen nur schwer erreichbar sind. Das verstärkt die Probleme. Generell zeigen zahlreiche Studien, dass die demografische Alterung nur dann schwierig wird, wenn sich Staat, Sozialpolitik und Gesellschaft nicht an die Entwicklung anpassen. Das ist wie bei der Zuwanderung: Die Probleme entstehen bei mangelnden Integrationsmassnahmen.
Stichwort Anpassung: Oft wird vorgeschlagen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Aber viele Firmen trennen sich von ihren älteren Mitarbeitenden; neue Stellen finden diese nicht: die Altersguillotine. Verschöbe die Erhöhung des Rentenalters die gesellschaftlichen Kosten der Rente auf die Arbeitslosenkasse?
Ja, diese Befürchtung gibt es. Gemäss Berechnungen würde sich zumindest ein gewisser Teil der Ersparnis auf der Rentenseite in der Arbeitslosenkasse als Minus niederschlagen. Und eine weitere, umgekehrte Befürchtung besteht: Wenn die Alten sehr lange im Arbeitsprozess bleiben, blockieren sie die Posten für die nachrückenden Jungen, auch die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Ist der Kündigungsschutz zu gross, kann das also unerwünschte Nebeneffekte haben. Eine Zwangserhöhung des Rentenalters halte ich für falsch. (…)
Ein radikaler Vorschlag?
Man könnte die AHV komplett abschaffen und auch die ALV, die Mutterschaftsversicherung, den Lohnersatz für den Militärdienst und so weiter. Alles wird durch eine Grundversorgung ersetzt – nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern eine Grundversicherung. Jeder Mensch ab Erwerbsalter bekommt einen generellen Erwerbsersatz, wenn er nicht arbeitsfähig ist, egal, ob wegen Studium, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit, Unfall oder Krankheit. Alter per se wäre kein Grund, nicht zu arbeiten: Kann jemand noch etwas tun, und seien es nur ein paar Wochenstunden gemeinschaftliche Arbeit für die Nachbarschaft, täte er das. Für den Rest käme der Erwerbsersatz auf.
Ehrlich gesagt: klingt erschreckend. Worin liegt da der Vorteil?
Dass eine Kultur herrschen würde, in der Arbeitsintegration bis ins höhere und hohe Alter und auch Lifelong-Learning selbstverständlich und vom Staat gefördert wären. Niemand gehörte zum alten Eisen – und wirklich jeder wäre abgesichert. Wieso erschreckend? Wenn einer nicht kann, greift die Erwerbslosenversicherung, unabhängig vom Grund für die Unfähigkeit. Da würde ein grosser administrativer Wasserkopf wegfallen.
TA
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