Die beiden interviewten Psychologen vertreten unterschiedliche Ansichten zu diesem Thema. Thomas Ihde erkennt eine tatsächliche Zunahme der Erkrankungen, während Niklas Baer meint, dass es primär die Diagnosen sind, die in den letzten Jahren markant zugenommen haben.
Entsprechend der Unterschiede in ihren Einschätzungen kommen die beiden auch zu unterschiedlichen Meinungen darüber, was angesichts des enormen Problems unternommen werden sollte.
Ihde setzt auf einen vermehrten Einsatz und verstärkte Bemühungen um die psychische Situation junger Menschen. Er glaubt nicht, dass eine Eingrenzung von IV-Renten für Bezüger unter 30 Jahren hilfreich sei. Bear unterstützt den von den kantonalen Gesundheitsdirektoren vorgeschlagene Massnahme. Auszüge aus den Interviews:
Wie erklären Sie sich den enormen Anstieg der Zahlen? Nehmen psychische Erkrankungen bei Jungen zu?
Baer: Ich denke nicht, dass es mehr junge Menschen mit psychischen Problemen gibt als früher, sondern mehr Behandlungen. Das hat mit der Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen zu tun und ist eigentlich ein Fortschritt. Laut der Schweizerischen Gesundheitsbefragung waren 2012 rund 5 Prozent der Bevölkerung aufgrund eines psychischen Problems in Behandlung, 2022 waren es schon etwa 8 Prozent. Bei den 15- bis 24-Jährigen hat sich der Anstieg mehr als verdoppelt, auf 9 Prozent.
Daraus könnte man eigentlich den Schluss ziehen, dass es heute weniger Menschen geben müsste, die aufgrund von psychischen Problemen arbeitsunfähig sind. Wieso werden die Leute durch die Behandlungen nicht belastbarer?
Baer: Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Die Behandlungen sind eine gute Sache, aber sie haben einen zu geringen Effekt auf die Arbeitsfähigkeit. Hinzu kommt: Je mehr Personen in Behandlung sind, desto mehr können grundsätzlich krankgeschrieben werden. Und wer lange krankgeschrieben ist, wird automatisch bei der IV angemeldet. Das führt wohl dazu, dass letztlich mehr Leute berentet werden. Der gesellschaftliche Fortschritt in Bezug auf psychische Erkrankungen hat also einen unguten Nebeneffekt.
Es wird noch schlimmer?
Ihde: Ja, wenn die heutigen Jugendlichen in fünf Jahren erwachsen werden, wird die IV-Quote noch mal massiv ansteigen. Wir befürchten, dass das ganze Rentensystem in ein paar Jahren kollabieren könnte. Der Telefondienst von Pro Juventute, der Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen unter der Nummer 147 rund um die Uhr unterstützt, wird förmlich mit Anrufen zugedeckt. Auch bei Pro Mente Sana können wir die Anrufe kaum noch abdecken.
Es gibt Fachleute, die sagen, es gebe nicht mehr psychische Erkrankungen als früher, sondern bloss mehr Diagnosen wegen der Enttabuisierung des Themas.
Ihde: Wenn wir von IV-Renten sprechen, dann reden wir von schwersten psychischen Beeinträchtigungen. Wer eine Rente zugesprochen bekommt, ist lange und schwer krank. Niemand entwickelt plötzlich Symptome einer Schizophrenie, nur weil heute mehr Menschen in den sozialen Medien über ihre Angststörungen reden. Der Anstieg der Rentenquote hat nichts mit der Enttabuisierung von psychischen Problemen zu tun.
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