Hansueli Schöchli philosophiert in der NZZ über die genetischen Ursachen menschlicher Verlustängste und ihre Folgen für die Reform der Altersvorsorge.

Die Besitzstandwahrung hat auch in der Politik eine überragende Bedeutung. Besonders grotesk ist das Ausmass in der Altersvorsorge. Im Obligatorium der beruflichen Vorsorge ist zwar das gesetzliche Minimum des Umwandlungssatzes zur Berechnung der Jahresrenten rechnerisch viel zu hoch – doch ein Abbau dieser Subvention ruft sofort nach «Kompensationen», damit möglichst niemand eine Senkung der nominalen Jahresrente erleidet.

Ähnlich ist das Bild in der AHV. Die Frauen leben zwar im Mittel deutlich länger als die Männer, aber sie sind zurzeit in Sachen Rentenalter privilegiert. Die Angleichung mit der Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 ist nun vorgesehen, doch der Wegfall des Privilegs ist gemäss herrschender politischer Meinung mindestens teilweise zu «kompensieren». Also auch hier soll gelten: Privilegierte bekommen eine «Entschädigung» für den Wegfall ihrer Privilegien.

Die Frauenlöhne liegen im Mittel deutlich unter den Männerlöhnen. Wie viel von der «unerklärten» Lohndifferenz von etwa 8 Prozent mit Geschlechterdiskriminierung zu tun hat, ist offen. Klar ist aber, dass den Gewerkschaften die Frauenlöhne nicht wichtig sind. Wären sie ihnen wichtig, nähmen sie Opfer ihrer Mehrheitskundschaft (der Männer) in Kauf. Zum Beispiel mit folgender Parole: «Wir fordern eine Erhöhung der Frauenlöhne um 4 Prozent und eine Senkung der Männerlöhne um 4 Prozent, damit die Frauen nicht mehr benachteiligt sind.» Doch kraft der Verlustaversion wären Gewerkschaftssekretäre mit solchen Forderungen wohl bald auf der Suche nach einer neuen Stelle.

Der Trieb zur Besitzstandwahrung beeinflusst auch viele andere Bereiche. So sind zum Beispiel einmal gesprochene Subventionen und Sozialleistungen kaum mehr rückgängig zu machen. Und Steuerreformen werden stark erschwert. Das gilt etwa für die vieldiskutierten Dossiers Eigenmietwert und Familienbesteuerung: Im Prinzip wären hier Reformen für den Fiskus aufkommensneutral machbar. Doch damit gäbe es nebst vielen Gewinnern auch viele Verlierer – und die Verlierer schreien lauter als die Gewinner.

  Artikel Schöchli