Jürg Brechbühl, künftiger Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), wurde mit dem St. Galler Tagblatt vom 21.04.2012 interviewt. Auszüge:

Bundesrat Alain Berset will die Erste und die Zweite Säule vermehrt als Gesamtpaket betrachten. Entspricht dies auch Ihrer Stossrichtung?
Das ist vor allem die Stossrichtung der Bundesverfassung. Sie schreibt vor, dass die berufliche Vorsorge zusammen mit der AHV 60 Prozent des Einkommens abgleichen soll. Man muss die beiden Säulen so weiterentwickeln, dass man dieses Ziel möglichst erreicht.

Wie könnte eine stärkere Vernetzung konkret aussehen?
In zahlreichen Punkten stützt sich die berufliche Vorsorge bereits heute auf die AHV ab. Ein Beispiel ist das Rentenalter. Wegen der steigenden Lebenserwartung werden wir gewisse Anpassungen vornehmen müssen. Es stellt sich daher etwa die Frage, ob man die Lücken in der beruflichen Vorsorge mit der AHV korrigieren könnte.

Heisst das, man würde die AHV-Beiträge erhöhen?
Wenn Sie den Mindestumwandlungssatz senken und das Leistungsniveau erhalten wollen, müssen Sie so oder so auf die eine oder andere Art die Beiträge erhöhen – sei es durch höhere Sparbeiträge in der beruflichen Vorsorge oder durch einen tieferen Koordinationsabzug.

Muss der Mindestumwandlungssatz gesenkt werden?
Das Stimmvolk hat dies 2010 abgelehnt. Es wird folglich schwierig sein, eine Senkung durchzubringen, ohne Massnahmen zu treffen, die das aktuelle Leistungsniveau im Rahmen des BVG sicherstellen.

Wird das Stimmvolk, das zu einem immer grösseren Teil aus älteren Menschen besteht, Leistungskürzungen je zustimmen?
Es kommt immer darauf an, wie eine Vorlage konkret aussieht. Man darf die Intelligenz des Stimmvolks nicht unterschätzen. Es trifft durchaus Entscheide, die sich aus einer Notwendigkeit heraus ergeben. Um es zu überzeugen, muss man die Fakten auf den Tisch legen – und den heutigen Standard in der Mindestvorsorge bewahren.

Werden wir länger arbeiten müssen?
Möglicherweise werden wir künftig kein fixes Rentenalter mehr haben. Bei vielen Pensionskassen kann man die Rente bereits heute nach eigenem Wunsch im Alter zwischen 58 und 70 Jahren beziehen. Dies könnte durchaus die Zukunft der gesamten Altersvorsorge sein. Je nach individueller Situation werden wir länger arbeiten oder uns früher zurückziehen.

Bundesrat Berset hat zahlreiche SP-Vertreter ins Innendepartement geholt. Wird das Departement nun linker?
Über einzelne Projekte entscheidet der Bundesrat und nicht das Bundesamt. Er macht die Politik. Was man sicher merken wird, ist eine Sensibilität in den sozialpolitischen Fragen. Eine solche können aber auch Mitglieder anderer Parteien mitbringen. Tatsächlich ist es wahrscheinlich so: Die Aufgaben des Amtes ziehen Menschen meiner politischer Couleur an.

Ab dem 1. Juli wird Jürg Brechbühl offiziell als Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) arbeiten. Im Mai steigt der 56-Jährige bereits mit einem 30-Prozent-Pensum ein. Seit 2005 ist er Teilhaber einer Firma, die Vorsorgeeinrichtungen verwaltet und berät. Davor war er bereits über 20 Jahre lang im BSV tätig, zuletzt als Vizedirektor. Brechbühl ist in Rheinfelden im Kanton Aargau aufgewachsen. Die Pläne für ein Atomkraftwerk in Kaiseraugst in den Siebzigerjahren haben ihn politisiert und zur SP gebracht. Seit 30 Jahren lebt er in Bern.