Lebenserwartung und Rentenalter sind Themen, die bewegen. Die Alten wie die Jungen. Den Einstieg dazu suchen wir aber nicht über die aktuelle politische Auseinandersetzung – dazu kommen wir später – sondern über die Bibel. Dort finden sich einige aufschlussreiche Angaben zum Thema Alter. Der sprichwörtlich gewordene Methusalem brachte es laut Genesis auf 969 Jahre, nicht weit zurück liegen Jered (962), Noah – Enkel des Methusalem – (950) und Adam (895 Jahre).

Natürlich wurden die Angaben immer wieder in Zweifel gezogen und Missverständnisse vermutet. Diese lassen sich aber nicht so leicht belegen. Zur allgemeinen Beruhigung werden die Zahlen heute als symbolisch gedeutet. Im 1. Buch Mose 6,1–4 begrenzte Jahwe die Lebenszeit schliesslich auf hundertzwanzig Jahre, dem Todesalter des Moses. Das Limit hat sich bis in die jüngste Vergangenheit durchgesetzt. Soweit bekannt hat lediglich die auch in Aktuarskreisen oft zitierte Französin Jeanne Calment, gestorben 1997 mit 122 Jahren, diese Grenze überschritten. Die älteste Schweizerin, Alice Schaufelberger, starb im November vergangenen Jahres im Alter 112 Jahren.

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Die Rückkehr zu alttestamentarischen Verhältnissen ist vorderhand nicht zu erwarten, obwohl der Biologe und Langlebigkeitsforscher Aubrey de Grey vor einigen Jahren die Prophezeiung wagte, der erste Mensch, der älter als 1000 Jahre werde, sei vermutlich schon geboren. Mittlerweile hat er die Aussage relativiert. Und seine «Methuselah Foundation» hat kürzlich ihre Zielsetzung von einer grundsätzlich unbegrenzten Erhöhung der Lebensdauer konkretisiert auf den etwas bescheidenere Plan «Making 90 the New 50 by 2030». Auch das könnte so manchen PK-Experten ins Grübeln bringen.

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Trotz der grundsätzlich erfreulichen Aussichten – sofern man am Leben hängt – und die meisten bis ins hohe Alter sich einer guten Gesundheit erfreuen, wollen viele – eine Mehrheit? – partout nicht länger arbeiten als bis zur traditionellen Grenze von 64/65 Jahren. Und wenn immer möglich schon vorher in Pension gehen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die willkürliche Vorgabe mit Rentenalter 65 – eine sozialpolitische Innovation ersten Ranges – vor rund 140 Jahren vom erzkonservativen Deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck für die neue Rentenversicherung und mit Blick auf die damals fast gleich hohe Lebenserwartung festgesetzt wurde. Dahinter stand politische Kalkül: «Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“. Seine Rechnung ist voll aufgegangen und das wohl mehr, als er es selbst gewünscht hätte. Ganz besonders hierzulande.

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Die progressiven Kreise jedenfalls haben das Reichsdeutsche Rentenaltersystem so sehr verinnerlicht, dass jede Auf- und Abweichung als unakzeptabler Verstoss gegen Gerechtigkeit und Anstand aufs entschiedenste bekämpft wird. Alter 65 ist absolut gesetzt, als ginge es gleichfalls auf Jahwe zurück. Dabei war es bloss die Idee eines durchtriebenen preussischen Junkers. Der Bezug auf die Lebenserwartung ging allerdings verloren.

Auch die erfolgreich lancierte «Renteninitiative» der Jungfreisinnigen für ein Rentenalter 66/66mit späterer Dynamisierung gemäss Entwicklung der Lebenserwartung, bewegt sich letztlich im Rahmen eines generell gesetzten Pensionierungszeitpunkts. Mehr als ein vorsichtiges Drehen an den Stellschrauben der Altersvorsorge wagen auch sie nicht vorzuschlagen. Und schon das gilt als ausgesprochen kühn.

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Reiner Eichenberger, Professor an der Universität Freiburg, ist das alles zu wenig und vor allem das Falsche. Sein Vorschlag: weg von diesem Zahlenfetischismus und hin zu einem Anreizsystem, um die Erwerbstätigen zu längerer aktiver Tätigkeit zu motivieren. Seine Überlegungen hat er schon mehrfach zu Papier gebracht, in einem Interview mit Nebelspalter-Redaktor Dominik Feusi hat er sie zusammengefasst.

Das ist überzeugend und zukunftsweisend, aber weit ab von praktischer Umsetzung. Trotz vorsichtiger Flexibilisierung gilt 65 noch immer als das Mass aller Dinge, obwohl keine zwei Erwerbstätigen unter gleichen physischen, mentalen und sozialen Voraussetzungen bezüglich ihrer Arbeit im Alter leben.

Auch der Arbeitgeberverband, der zwar wiederholt das grosse Wehklagen über die absehbar fehlenden Fachkräfte durch die Pensionierungswelle in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts anstimmt, weiss zur Behebung nichts anders zu bieten als die Forderung nach einer Erhöhung des Rentenalters.

So begnügt man sich bei dieser hochbedeutenden sozialpolitischen Frage mit kurzsichtiger Erbsenzählerei, produziert Sozialkitsch über ein «Alter in Würde», ergeht sich in Endlosschlaufen über die Benachteiligung der Frauen und landet am Schluss dort, wo man schon immer war. Bismarck hätte sich köstlich amüsiert.

Peter Wirth, E-Mail