Über Wochen wurden wir täglich, wenn nicht stündlich, mit Schreckensmeldungen überhäuft. Dürfen wir, nachdem die gemeldeten Corona-Infektionen und auch die Todesfälle stark zurückgegangen sind, mit einer Entspannung rechnen? Nach dem Lockdown mit einem Lockup? Immerhin sind ab heute die Tatoo-Studios wieder geöffnet. Das ist doch ein Lichtblick.

Die NZZ vergab dem Bundesrat für seine Krisenpolitik die Note 5-6. Ausgedeutscht: besser geht eigentlich nicht. Das «summa cum laude» ist nicht überraschend, nachdem das Blatt genauso wie der Blick oder die SRG unserem Bundesrat in bemerkenswerter Kritiklosigkeit in all ihren Massnahmen gefolgt ist. Da kann man jetzt im Rückblick nicht plötzlich meckern. Die an den Tag gelegte Regierungstreue unserer Medien hätte selbst ihren Kollegen in Peking zur Ehre gereicht.

Beunruhigend jedoch, mit welcher Selbstverständlichkeit uns Zahlen vorgesetzt wurden, deren Erfassung fragwürdig und in ihrer Auswertung zumindest verwirrend sind. So wurden beispielsweise die Resultate der Tests nie hinterfragt. Also etwa danach, was als false Positives und false Negatives bezeichnet wird. Aber das ist wohl eher etwas für professionelle Statistik-Fans und scheint keine Rolle zu spielen.

Schwerer hinzunehmen: Die von der NZZ auf ihrer Website täglich publizierte Prozentzahl, ermittelt als Quotient aus der Zahl der «im Zusammenhang mit Corona» Verstorbenen und der gemeldeten Zahl der labormässig bestätigten Infektionen, musste von einem erheblichen Teil der Leserschaft als Mass für die Mortalität verstanden werden. Sie lag bei 5 bis 6 Prozent. Stichproben und Hochrechnungen, soweit sie vorliegen, weisen hingegen auf eine Zahl von unter 5 Promille. Da bewegte sich das Blatt wohl nicht ganz auf der Höhe seines intellektuellen Anspruchs.

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Nun lässt sich, und nicht zu Unrecht, argumentieren, dass die Zahl und die Kategorisierung der Todesfälle nebensächlich sind. Entscheidend sei die Entwicklung der Todesfälle, um eine Übersterblichkeit und damit die Gefahr der Pandemie festzustellen. Aber auch hier fällt der Befund weit weniger dramatisch aus, als man angesichts der Massnahmen und ihren Auswirkungen erwarten könnte.

Der K-Tipp hat dazu einige Daten zusammengetragen: 2015, dem «Grippejahr», starben in den ersten 14 Wochen insgesamt 21’430 Personen, dieses Jahr waren es im gleichen Zeitraum 19’785 – also 1645 weniger. Aussagekräftiger sind die entsprechenden Zahlen für die über 65-Jährigen. Sie lauten wie folgt: 2015 waren 18’779 Todesfälle zu verzeichnen, 2020 hingegen nur 17’398 oder 1381 weniger. Die Zahl der verstorbenen älteren Personen liegt im laufenden Jahr im Rahmen der Vorjahre. 2019 waren es 17’360, 2018 17’775 Todesfälle in dieser Altersgruppe. Auffällige Differenzen lassen sich nur für ausgewählte Wochen feststellen.

Was die Daten nicht hergeben, wurde uns dafür täglich in ausführlichsten Interviews mit Virologen, Epidemiologen und Biologen unterschiedlichster Provenienz und Kompetenz zugemutet. Deren Prognosen haben sich bisher als wenig überzeugend erwiesen. Es wurden 20’000 bis 60’000 Corona-Todesfälle vorausgesagt.

Da haben die Beteiligten offenbar einiges bei den Klimatologen abgeschaut. Die erhoffte Weltberühmtheit ist nicht mit vorsichtigen Aussagen und professioneller Zurückhaltung zu erreichen. Und erst recht nicht der ungehinderte Zugang zu den Honigtöpfen der jetzt üppig dotierten Forschungsetats.

Aktuell haben wir etwa die Hälfte an Corona-Toten wie 2015 an Grippe Erkrankte verstarben, grosszügig gerechnet. Denn selbst diese Zahlen sind nur bedingt vergleichbar, weil die Zuordnung zur Influenza als Todesursache 2015 vermutlich um einiges vorsichtiger vorgenommen wurde als heute die Klassifizierung unter Corona. Es wäre damals niemand auf die Idee gekommen, von einem Todesfall in «Zusammenhang mit Grippe» zu sprechen, wenn gleichzeitig eine Krebserkrankung vorlag.

Was noch anzufügen wäre: wir reden hier von reinen Todesfallzahlen und berücksichtigen nicht die verlorenen Lebensjahre, wie es zumindest statisch angezeigt wäre. Angesichts eines Medianalters der erfassten Corona-Verstorbenen von über 84 Jahren ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn es um einigermassen aussagekräftige Vergleiche geht.

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Der Bundesrat, der mit der «Bazooka» die Folgen des Virus bekämpfen wollte, fällt nun wieder in die alten Muster zurück: Mit Unsicherheit, Zögern. Man spendiert lieber Milliarden, um die Folgen der verabfolgten Politik abzufedern, als irgend ein Risiko einzugehen. Milliarden, die natürlich vom Steuerzahler aufgebracht werden müssen und trotz der absehbaren Riesensumme längst nicht den gesamten Kollateralschaden decken werden.

Unterstützt wird der Bundesrat in seinem Zögern von ebenjenen Virologen und Epidemiologen, die mit ihren ersten Prognosen weit daneben lagen und die nun ihre ganze Hoffnung auf die «Zweite Welle» setzen. Die Politiker greifen die Warnung gerne auf, ebenso die Medien.

Die virale Verbreitung des Begriffs lässt sich gut verfolgte. Der Begriff «Zweite Welle» wurde in der Schweizer Presse am Samstag nicht weniger als 93-mal erwähnt, eine Woche zuvor waren es erst 24.

Die Epidemiologen bringen den Begriff in die Diskussion, die Politik greift ihn auf und die Medien verbreiten ihn. Da ist dann in der Regel kein Halten mehr. So gerät man in eine Rückkoppelung der Meinungsbildung, wo aus einer Hypothese unvermittelt ein Fakt wird. Auf der Strecke bleibt die nüchterne Analyse. Und man hat die scheinbare Bestätigung dafür, dass man am besten jetzt nichts ändert, sondern weiterfährt wie bisher.

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Man kann die Politik des Bundesrats in der ersten Phase der Ausbreitung des Corona-Virus beurteilen wie man will. Sie lässt sich jedenfalls rechtfertigen. Doch jetzt ist abzuwägen zwischen Sicherheit und Freiheit, wobei es – wie übrigens immer – viel einfacher ist, alles für die Sicherheit zu tun, als sich für die Freiheit einzusetzen. Freiheit heisst immer auch Risiko, Unsicherheit, also Bestandteil des gelebten Lebens.

In einer so risikoaversen und zusehends Compliance besessenen Gesellschaft wie der unsrigen bleibt die Forderung nach Freiheit trotz aller Beteuerung ein heikles Unterfangen. Benjamin Franklins eindringliche Warnung sollten wir deshalb doppelt ernst nehmen: «Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.»

Peter Wirth, E-Mail