Fabian Schäfer, Bundeshausredaktor der NZZ, unterstützt in seinem Kommentar den Entscheid des Parlaments zur BVG-Reform.
Vor vier Jahren sah die Welt anders aus, da strahlten mächtige Männer in Bern um die Wette. In diskreten Vorgesprächen zur Pensionskassen-Vorlage kam der Arbeitgeberverband den Gewerkschaften derart weit entgegen, dass manche Kritiker spöttisch fragten, ob bald die Fusion bevorstehe. Die Verbände einigten sich tatsächlich darauf, im BVG systemfremde Milliardentransfers à la AHV einzuführen: dauerhaft, ungezielt, zulasten der Jungen. Logisch, dass Bundesrat Alain Berset den Steilpass freudig aufnahm. Der Sozialdemokrat hätte kaum je eine solche Umverteilungsparty durch den Bundesrat gebracht, wären nicht die Arbeitgeber an Bord gewesen.
Von solchen Ideen ist man heute zum Glück weit entfernt. Das Ergebnis des Prozesses ist wesentlich besser als sein Ursprung, auch wenn es immer noch einiges auszusetzen gibt. Die Vorlage geht in zwei zentralen Fragen sehr weit: Erstens sieht sie bewusst «Ausgleichsmassnahmen» auch für Angestellte vor, bei denen es gar nichts auszugleichen gibt. In der 15-jährigen Übergangsgeneration erhalten Personen Rentenzuschläge, die durch die Reform keine Nachteile erleiden.
pw. Eines der Kernthemen bei der Behandlung der Rentenreform bildet für NZZ-Redaktor Hansueli Schöchli die Umverteilung und ganz besonders deren mehr oder weniger raffiniert camouflierte Variante. Er findet dabei unsere ungeteilte Unterstützung. In der NZZ-Ausgabe vom 11.3.2023 greift er sie unter einem neuen Aspekt auf: der Rolle der Medien, die mit Links und Gusto beim Versteckspiel mitmachen.
So neigen manche Medienvertreter dazu, auf einem Auge blind zu sein – und mehr sind auf dem linken Auge blind. In der Altersvorsorge stossen deshalb die linken PR-Kampagnen über «Grosszügigkeit» bei den Renten contra «Knausrigkeit» ebenso wie über die angebliche «Rentenlücke» bei den Frauen auf mediale Resonanz.
Bei einer Reduktion der Renten ist im gängigen Mediendiskurs im Sinne der Linken typischerweise von einem (Sozial-)Abbau die Rede, der nach Kompensationen ruft, und nicht von einer längst überfälligen Senkung von Privilegien zwecks Entlastung der Jüngeren.
Michael Ferber hat in der NZZ die wichtigsten Punkte der laufenden Reform aufgelistet und erläutert.
1. Der BVG-Umwandlungssatz soll endlich sinken
Die BVG-Reform sieht die Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent vor. Dieser bestimmt, mit welchem Satz das angesparte Vermögen mindestens in einen jährlichen Rentenanspruch umgewandelt werden muss. Technisch ist er abhängig von der mit dem Kapital einigermassen risikofrei erzielbaren Rendite und der erwarteten Laufzeit. (…)
Fabian Schäfer schreibt in der NZZ: Ein wichtiger Eckpunkt der Pensionskassenreform steht fest: Für Angestellte mit tieferen Löhnen wird die Vorsorge stark ausgebaut – sehr zum Ärger von Tieflohnbranchen.
Ist das nun die Entscheidung? Seit zweieinhalb Jahren nimmt die Debatte über die nächste Rentenreform den Berner Politbetrieb in Beschlag. Ungefähr achtzig Stunden lang haben National- und Ständerat bisher über die Vorlage zur beruflichen Vorsorge (BVG) diskutiert. Am Donnerstag kam es zu einer mutmasslich entscheidenden Weichenstellung: Der Ständerat hat sich in der heftig umkämpften Frage, welcher Teil des Lohns zwingend via Pensionskasse für das Alter auf die hohe Kante gelegt werden muss, dem Nationalrat angeschlossen.(…)
Genau hier liegt, abstimmungstaktisch betrachtet, wohl der springende Punkt. Betroffene Branchen haben im Vorfeld über ihre einflussreichsten Repräsentanten – über den Gewerbe- und den Bauernverband – klargemacht, dass ihnen dieser Ausbau der zweiten Säule zu weit geht. Anfang Woche warnte der Präsident des Gewerbeverbands Fabio Regazzi (Mitte) davor, dass viele Betriebe sich eine solche Verteuerung der Arbeit nicht leisten könnten.
Hansueli Schöchli schreibt in der NZZ zu den Beschlüssen des Nationalrats zur BVG-Revision:
Der Nationalrat hat sich am Dienstag für ein Kompensationsmodell entschieden, das im vergangenen Dezember auch im Ständerat eine Mehrheit erreichte. Diese Frage ist nun im Parlament entschieden.
So sollen gewisse Versicherte bei den 50- bis 64-Jährigen Rentenzuschläge von bis zu 2400 Franken pro Jahr erhalten. Der Betrag hängt vom Jahrgang und vom angesparten Vorsorgekapital ab. Rund 50 Prozent der Versicherten in den 15 Übergangsjahrgängen bekommen einen Zuschlag; unter ihnen sind viele, die mit der Reform selbst ohne Zuschlag gar keine Renteneinbusse hätten. Zuschlagsberechtigt sind Versicherte mit einem Vorsorgeguthaben zum Zeitpunkt der Pensionierung bis zu rund 440 000 Franken.
Diese Sondersubventionen kosten total über 11 Milliarden Franken und sollen vor allem durch Jüngere finanziert werden – via zusätzliche Lohnabzüge bis rund 172 000 Franken. Im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Reform beträgt der zusätzliche Lohnabzug 0,24 Prozent, danach soll der Bundesrat je nach Bedarf die Abzüge festlegen. Die Sache ist zurzeit auf 15 Jahre beschränkt, doch ob es später nicht zur einer Verlängerung der Rentensubventionen kommt, ist völlig offen. (…)
Der bürgerliche Schulterschluss scheint zu halten: Die Reform der beruflichen Vorsorge soll in der Märzsession abgeschlossen werden. SVP allerdings mit Vorbehalten. Bundeshausredaktor Fabian Schäfer schreibt in der NZZ:
Und wieder zeichnet sich dieselbe Konstellation ab wie bei der AHV: Die Linke kämpft gegen das geschlossene bürgerliche Lager inklusive GLP. Die Gewerkschaften haben bereits das Referendum angekündigt, obwohl noch unklar ist, wie die Vorlage genau aussieht. Im Zentrum steht die Reduktion des gesetzlichen Umwandlungssatzes, der über die Höhe neuer Renten entscheidet. Der Satz soll mit Blick auf Anlagerenditen und Lebenserwartung von 6,8 auf 6 Prozent sinken. Die meisten Pensionskassen haben schon lange tiefere Sätze, weil ihre Leistungen über das gesetzliche Minimum hinausgehen.
Umstritten ist die Frage, ob die Reduktion nur für die unmittelbar betroffenen Versicherten kompensiert werden soll oder darüber hinaus. Wie die Kommissionsentscheide zeigen, dürften sich in diesem Streitpunkt innerhalb des bürgerlichen Lagers diejenigen Kräfte durchsetzen, die eine «sozialere» Lösung fordern. Die Mehrheit will in der 15-jährigen Übergangsphase mehr Rentenzuschläge verteilen als vom Nationalrat letztes Jahr beschlossen. Die Kommission übernimmt hier den Vorschlag des Ständerats.
Hansueli Schöchli kommentiert in der NZZ die Drohung von SGB-Präsident Maillard, das Referendum gegen die BVG-Reform zu ergreifen, auch wenn das Geschäft im Parlament noch gar nicht durchberaten ist. Aktuell ist die SGK-N mit der Reform beschäftigt.
Der Gewerkschaftspräsident Pierre- Yves Maillard hat im «Blick» schon vor dem Ende der Parlamentsdebatten das Referendum angekündigt. Das nennt man Beton. Das Grundproblem der Linken mit der zweiten Säule: Man spart hier für sich selber, und das erschwert versteckte Umverteilungen von oben nach unten und von Jung zu Alt. In der AHV ist das Versteckspiel leichter.
Die Pensionskassenreform hat nur eine Chance, wenn sich die Bürgerlichen zusammenraufen. Die Senkung des Rentenminimums könnte man aber angesichts der unsäglichen Debatte zu «Kompensationen» getrost fallenlassen. Ein Scheitern schon im Parlament wäre nicht «schlimm»: Das gesetzliche Rentenminimum gilt nur für das Obligatorium der beruflichen Vorsorge, und die meisten Pensionskassen haben genügend überobligatorisches Kapital, um mit einer Mischrechnung mathematisch angemessene Renten zu zahlen.
Wer dies nicht kann, müsste ohne Reform die überhöhten Rentengarantien mit Beitragserhöhungen finanzieren: das wäre das kleinere Übel als viele der diskutierten neuen Quersubventionen. Eine Reform könnte sich auf die Ausweitung der beruflichen Vorsorge auf tiefere Einkommen beschränken. Damit wären vermehrt auch Teilzeitbeschäftigte abgedeckt. Das klingt populär, und das kann man wollen. Doch das erfordert zusätzliche Lohnabzüge bei den Betroffenen. Solange das Gewerbe wegen der Kosten eine solche Minireform ablehnt, wird auch daraus kaum etwas werden.
Hansueli Schöchli kommentiert in der NZZ die Beschlüsse des Ständerats zur BVG-Reform. Viel Gescheites vermag er offenbar dabei nicht auszumachen.
Im Schweizer System der Altersvorsorge ist der Durchblick schwierig. Das System ist komplex, die Umverteilungsströme sind gross, aber gut versteckt – so dass Politiker und Lobbyisten dem Volk ungestraft Sand in die Augen streuen können. Das gilt nicht nur für die AHV, sondern auch für die zweite Säule: die berufliche Vorsorge via Pensionskassen. (…)
Die diskutierte Rentenreform bringt eine Senkung des gesetzlichen Minimums von 6,8 auf 6,0 Prozent. Das wäre immer noch zu hoch, doch selbst dieser Schritt ist umstritten, denn ein tieferer Umwandlungssatz heisst tiefere nominale Jahresrenten. Deshalb rufen Politiker von links bis rechts nach «Kompensationen» in Form von Rentenzuschlägen mindestens für die Übergangsjahrgänge.
Dass man Versicherte für den Abbau eines Privilegs (Subvention) noch kompensieren muss, erscheint zwar absurd, aber so läuft die Politik der Altersvorsorge: Die älteren Jahrgänge sind an der Urne zahlenmässig stark, und die Kosten für die Jüngeren lassen sich gut verschleiern. Die Jüngeren interessieren sich zudem noch nicht allzu stark für die Altersvorsorge, so dass die Politik sie relativ leicht übers Ohr hauen kann. (…)
Im NZZ-Magazin fragt sich Albert Steck, weshalb die Politik in Sachen Altersvorsorge so kläglich versagt. Er hat einen Vorschlag:
Effektiv steckt die Schweizer Vorsorgepolitik in der Sackgasse. Sollte das Parlament mit der Reform der zweiten Säule erneut scheitern, bleibt konsequenterweise nur eine Lösung: Die überforderten Politiker müssen sich bei diesem Dossier selbst entmachten. So wie zum Beispiel in der Geldpolitik:
Da ist es völlig normal, dass ein unabhängiges Expertengremium die Leitzinsen bestimmt. Regierung und Parlament nehmen bewusst keinen Einfluss, um die Gefahr einer hohen Inflation zu verringern.
Auch bei der Schuldenbremse hat das Volk die Macht des Parlaments beschnitten. Mit Erfolg: Der Staatshaushalt steht solide da. Analog sollten die Politiker die Steuerung der beruflichen Vorsorge einem Komitee aus Fachleuten übertragen. So könnte es gelingen, die Altersrenten dem unerquicklichen politischen Hickhack zu entziehen.
Michael Ferber beschreibt in der NZZ die Folgen der sinkenden Ersatzquote für Versicherte und das System unserer Altersvorsorge. Betroffen sind vor allem Bezüger mittlerer Einkommen. Ferber schreibt:
In der Tat ist die durchschnittliche Ersatzquote in der Schweiz laut der Investmentgesellschaft Swisscanto bei einem Lohn von 80 000 Franken im Zeitraum 2011 bis 2020 um 11 Prozentpunkte auf 69 Prozent zurückgegangen. Die Niederlande oder Dänemark kommen hier laut dem Global-Pension-Index auf Werte von mehr als 80 Prozent.
Gemäss Studien von Finanzdienstleistern ist die Ersatzquote für manche Bevölkerungsgruppen sogar unter 60 Prozent gefallen. Dies ist heikel –denn dieses Ziel wird aus der Schweizer Verfassung abgeleitet, in der steht, die Renten aus erster und zweiter Säule sollten im Ruhestand die Fortsetzung des gewohnten Lebensstandards ermöglichen.
Hansueli Schöchli gibt der laufenden BVG-Reform geringe Chancen. Er schreibt:
Die Sozialkommission des Ständerats hat zwar im Oktober nach langem Gerangel kraft der bürgerlichen Stimmen mit deutlicher Mehrheit ein Reformpaket beschlossen. Doch erfolgversprechend erscheint diese Variante nicht: Sie wird nicht nur von links angeschossen, sondern auch vom Gewerbe.
Der 14-köpfige Vorstand des Gewerbeverbands hat sich klar gegen diese Variante ausgesprochen, wie der Verbandsvizedirektor Kurt Gfeller auf Anfrage sagte. Der deklarierte Hauptgrund: zu hohe Zusatzkosten für die Arbeitgeber. (…)
Die Kontroverse betrifft hier vor allem die Höhe der «Kompensationen» für Übergangsjahrgänge in Form subventionierter Rentenzuschläge. Die Linke fordert solch breite Zuschläge, dass die geplante Senkung des Rentenminimums überkompensiert würde und die Umverteilung von Jung zu Alt sogar noch zunähme.
Die BVG-Reform ist ins Schleudern geraten. Die bürgerliche Allianz ist zerbrochen, und die Linke will auch diese Reform für ihre Umverteilungspläne missbrauchen. In der NZZ stellt Hansueli Schöchli fest: Die Verlogenheit dominiert weiter. Er schlägt vor, die Senkung des Umwandlungssatzes getrennt zu behandeln, sie allenfalls ganz zu vergessen. In seinem Beitrag schreibt er:
Jeder Vorschlag, der bei den Rentenzuschlägen über die Nationalratsvariante hinausgeht, dürfte den ursprünglichen Reformzweck verfehlen. Es wäre wohl gescheiter, die Reissleine zu ziehen und die Diskussion über den Umwandlungssatz vom Rest des Reformpakets abzuspalten oder gleich ganz zu vergessen.
Dann müssten einfach jene 10 bis 15 Prozent der Pensionskassen, für die das gesetzliche Rentenminimum mangels überobligatorischen Kapitals der Versicherten nicht dauerhaft finanzierbar ist, Sanierungsbeiträge von den Versicherten und Arbeitgebern verlangen. Auf diese Weise verliert das gesetzliche Minimum weiter an Bedeutung – bis es irgendwann völlig irrelevant ist. Das wäre das kleinere Übel als die Einführung neuer versteckter Quersubventionierungen – die man kaum mehr wegbringt, wenn sie einmal da sind.
Katharina Fontana kommentiert in der NZZ den Ausgang der Abstimmung zu AHV 21 stellt Ueberlegungen zu den Forderungen nach einem Ausbau der beruflichen Vorsorge an.
Nach dem Ja zur AHV-Vorlage richtet sich der Fokus nun auf die zweite Säule der Altersvorsorge, das BVG. Am Abstimmungssonntag waren sich Gewinner wie Verlierer mehrheitlich einig, dass die im Parlament hängige BVG-Revision eine Frauenvorlage sein müsse. Das Parlament müsse die zweite Säule so ausgestalten, dass die Rentensituation der Frauen verbessert werde. Es ist indes fraglich, ob die Vorlage dies wird leisten können – trotz all den grossen Ankündigungen und Versprechungen, die in den letzten Wochen dazu gemacht wurden.
Hansueli Schöchli geht in der NZZ der Frage nach, was eine Ablehnung des Reformvorhabens für die AHV bedeutet. Klar ist: eine Sanierung der Finanzierung ist unumgänglich, wie immer auch der Urnengang ausgeht. Die Frage ist nur, wer die Last trägt.
Früher oder später wird es auf jeden Fall Sanierungsmassnahmen für die AHV geben. Der Wunsch der Linken ist klar: am liebsten eine Erhöhung der AHV-Lohnbeiträge, garniert durch Zusatzsubventionen via Nationalbankgelder. Eine Erhöhung der Lohnbeiträge ist aus linker Sicht politisch besonders attraktiv: Dies maximiert die versteckte Umverteilung von oben nach unten und von Jung zu Alt.
Zum einen müssten 25-Jährige die zusätzlichen Lohnabzüge noch 40 Jahre lang zahlen, 60-Jährige nur 5 Jahre lang, und Rentner hätten gar keine Zusatzkosten. Und zum anderen sind AHV-Lohnbeiträge auf Einkommensteilen über rund 86 000 Franken faktisch Steuern und subventionieren die Renten der Tiefverdiener.
Eine direkte Erhöhung der Steuerprogression wäre der ehrliche Weg für einen Ausbau der Umverteilung von oben nach unten. Doch weil dieser Weg nicht unbedingt mehrheitsfähig erscheint, zieht die Linke das Versteckspiel via Altersvorsorge vor.
Ein Ja am 25. September wäre ein Schritt zur Stabilisierung der AHV, sagt die grosse Mehrheit von 133 Ökonomen in einer KOF-NZZ-Umfrage. Will man die AHV längerfristig auf eine solide Basis stellen, brauche es aber eine Erhöhung des Rentenalters. 60 Prozent finden deshalb, dass die Initiative der Jungfreisinnigen in die richtige Richtung zielt.
Der Altersquotient – also die Anzahl Personen im Alter von 65 Jahren und darüber pro 100 Personen im erwerbsfähigen Alter – nimmt laut dem Bundesamt für Statistik bis 2050 von 32 auf 46 zu. Damit stellt sich die Frage, wie man die AHV trotzdem finanziell im Gleichgewicht halten kann.