Ist das Zeitalter der Entvölkerung, in das wir eintreten, auch deshalb so schwer fassbar, weil die Menschheit keine kollektive Vorstellung davon hat?
Tatsächlich muss man bis ins Mittelalter zurückschauen. Das letzte Mal schrumpfte die Weltbevölkerung Mitte des 14. Jahrhunderts, als die Pest in Europa wütete. Dann regierte lange Zeit das klassische demografische Modell: Die Menschen haben sich vermehrt wie Karnickel und sind gestorben wie die Fliegen. Bis dann die Industrialisierung alles änderte, der Hunger abnahm, Menschen in die Städte zogen, der hygienische und medizinische Fortschritt die Sterblichkeit senkte und schliesslich Frauen Karriere machten statt Kinder. Die meisten Menschen in Europa nehmen heute zwar durchaus wahr, dass die Welt immer grauer wird, aber nicht, was es heisst, wenn mehr Arbeitskräfte den Markt verlassen als nachkommen.
In Japan pflegen Roboter alte Menschen. Sind künstliche Intelligenz und technologischer Fortschritt die Rettung?
Ein kürzlich veröffentlichter Report des Massachusetts Institute of Technology untersuchte den Einsatz von Robotern in einem japanischen Altersheim und kam zum Schluss, dass diese den Pflegerinnen und Pflegern zusätzliche Arbeit aufbürdeten und keine abnahmen. Natürlich wird die künstliche Intelligenz die Arbeitswelt massiv verändern, nur passt der obige Befund zu den historischen Fakten: Bisher hat noch kein technologischer Fortschritt zu weniger Arbeitsplätzen geführt. Meist war das Gegenteil der Fall. Und selbst wenn die künstliche Intelligenz tatsächlich mehr Arbeit vernichten als schaffen sollte, bleibt die oft bewiesene Tatsache bestehen, dass der Mensch die Nähe anderer Menschen braucht für ein gesundes und glückliches Leben.
Zwischen 1920 und 1930 ist die Geburtenrate in Europa gesunken, um dann nach dem Zweiten Weltkrieg rasant zu steigen. Könnte ein solches Szenario sich wiederholen?
Wohl kaum. Die Raten fielen nach den sechziger Jahren viel tiefer und erholen sich seither nicht. Ich sehe Europa als demografisches Katastrophengebiet: Es gibt Länder, in denen es schlecht läuft, wie Frankreich, Irland und Skandinavien. Und es gibt solche, in denen es miserabel läuft: Italien, Portugal, Spanien, Deutschland und der Balkan gehören dazu. Diese Länder stehen vor dem demografischen Trilemma.
Was verstehen Sie darunter?
Es gibt für mich drei entscheidende Grössen: eine dynamische Wirtschaft, ethnische Kontinuität und den Hang zur kleinen Familie. Eine Gesellschaft kann sich zwei davon leisten, nicht aber alle drei. Japan etwa hat sich als Kollektiv für kleine Familien und ethnische Kontinuität entschieden und wenig Einwanderer ins Land gelassen. Bezahlen tut das Land das mit Stagnation. Und einer Staatsverschuldung, die 250 Prozent des Bruttoinlandprodukts beträgt. Deutschland, Grossbritannien, die Schweiz wollen eine dynamische Wirtschaft trotz kleinen Familien – sie setzen auf Immigration, was das Land verändern wird.
NZZ