Auspicia ex Avibus

Die Zunft der Prognostiker publiziert zwar weiterhin unverdrossen ihre Vorhersagen, der Glaube an deren Treffsicherheit dürfte aber bei den Empfängern unter den gegebenen Umständen eher gering sein. Die Ökonomen sind gebrannte Kinder und generell eher zurückhaltend. Für die nächsten Monate ist von ihnen alles zu haben. Je nach Gusto werden angeboten: U, V, W, L, Swoosh und weitere Codes als mögliche Varianten der künftigen Wirtschaftsentwicklung. Irgendetwas wird wohl zutreffen.

Die Virologen, Epidemiologen etc., die Gunst der Stunde und die ungewohnte mediale Aufmerksamkeit geniessend, spielen hingegen bedenkenlos ihren Expertenstatus aus. Sie folgen dem Geschäftsmodell der Klima-Apokalyptiker, das auf vorteilhafteste Weise Ruhm, Glanz und Ehre mit sprudelnden Honoraren verquickt. Die für die Schweiz fälschlicherweise prognostizierten 100’000 Corona-Toten scheinen ihrem Ruf bisher nicht geschadet zu haben.

Im engeren Bereich unseres Themas der Altersvorsorge sind Prognosen eng mit den politischen Überzeugungen verzahnt, was für die Qualität sowohl der Analyse wie der Vorhersage wohl eher ungünstig ist. Die AHV-Turbos des Gewerkschaftsbunds verkündeten noch 2011 in einer Studie: «Die AHV dürfte in den kommenden 15 Jahren ohne Beitragserhöhungen auskommen». Heute stellen wir fest: Stimmt in der Tat. Allerdings benötigt sie als Ersatz für politisch nicht durchsetzbare Beitragserhöhungen massiv zusätzliche Bundesmittel und Mehrwertsteuerprozente plus die Erhöhung des Frauenrentenalters. Das kam alles in der SGB-Prognose natürlich nicht vor.

Auch beim Bund hantiert man in Sachen AHV-Prognosen locker mit den Zahlen, um die bundesrätliche Politik verpacken zu können. Das BSV hat über Nacht seine Kompetenz entdeckt, um die für den zuständigen Bundesrat weniger geeigneten Prognosen des BFS durch eigene zu ersetzen.

Nebst der Buchstabensuppe der Ökonomen zur Voraussage des weiteren Verlaufs der Wirtschaftsentwicklung nach den massiven Corona-Staatseingriffen, sind wir mit den Konsequenzen der aktuellen Geld- und Finanzpolitik konfrontiert. Nachdem die Zentralbanken seit 2008 eine abenteuerliche Geldpolitik verfolgen – allen voran die EZB – folgen jetzt die Milliarden- und Billionendefizite der Staaten, um die Verheerungen des Lockdowns abzufedern.

Man sollte annehmen (dürfen), dass einigermassen absehbar ist, welche Teuerungs- und Zinseffekte sie haben werden. Aber weit gefehlt. Die Mehrheitsmeinung besagt, dass die Zinsen weiterhin ultratief bleiben, was aber nicht unbedingt plausibel ist. Gleichzeitig ist zu lesen, dass die Inflation auf den Radarschirmen der Investoren aufgetaucht ist. Wer Genaueres wissen will, wird freundlich auf die Kristallkugel verwiesen. Die alten Römer hatten als Alternativen immerhin noch die Analyse des Vogelflugs (Auspicia ex Avibus) und die Eingeweideschau (Auspicia ex Intestina). Es ist nicht klar, welche Fortschritte bezüglich Vorhersagen in den letzten zweitausend Jahren erzielt worden sind.

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Die Zukunft mit der angedrohten Neuen Normalität ist ungewisser und unberechenbarer denn je. Mit der unwahrscheinlichen Ausnahme unserer 2. Säule, bei welcher ungeachtet aller Um- und Einbrüchen davon ausgegangen wird, dass wir wissen, wie hoch die künftigen Erträge der Rentnerkapitalien über einen Zeitraum von 20 und mehr Jahren sein werden. Um sicher zu gehen, lassen wir darüber periodisch das Volk abstimmen, womit gleichzeitig auch über die Entwicklung der Lebenserwartung entschieden wird. Mit Schwarmintelligenz hat das wohl nicht nichts zu tun. Noch ärger kann man die Demokratie kaum ad absurdum führen. Aber das ficht die Verteidiger dieser Regelung nicht weiter an. Sie haben das Gesetz auf ihrer Seite. Bloss ihr Anspruch, dafür auch noch ernst genommen zu werden, geht doch zu weit.

Man könnte auch etwas Vernunft walten lassen, und die offenkundige Unsicherheit mit Flexibilität auffangen. Das wäre nicht bloss vernünftig, sondern käme auch der Generationengerechtigkeit entgegen. Aber weil beides entgegen den offiziellen Verlautbarungen nicht so hoch im Kurs steht, wie man es sich wünschen möchte, bleibt vorderhand alles beim Alten. Josef Bachmann, der quasi im Alleingang mit seiner Initiative gegen diesen Strom schwamm, ist gescheitert. Aber vielleicht hat er mehr erreicht, als es den Anschein hat. Seine Kritiker setzen darauf, dass das System trotz aller Mängel und Schönheitsfehler passabel funktioniert und weiterhin funktionieren wird. Bis 2030 wohl schon, und dann sehen wir weiter. Die passenden Prognosen dazu lassen sich nach Bedarf fabrizieren. Das BSV sammelt gerade erste Erfahrungen.

Peter Wirth, E-Mail