Harry Büsser ist im Zwiespalt. Als Mitglied der Chefredaktion der Handelszeitung steht er vor einer heiklen Entscheidung. Soll er, kann er, muss er? Oder doch nicht? Er verfügt über Informationen und Kenntnisse von «Eingeweihten» und die Frage stellt sich, dürfen diese an die Öffentlichkeit?

Um was geht es? Einfach gesagt, darum, wie man sein Altersguthaben oder wenigstens grössere Teile davon aus der Pensionskasse schmuggelt und weitaus rentabler bei einer Freizügigkeitsstiftung anlegt.

Büsser macht die Rechnung auf. «Ein fünfzigjähriger Mann kann 300’000 Franken in der Pensionskasse angespart haben. Wenn er das Vermögen selber verwaltet, werden daraus bis zu seiner Pensionierung im Alter von 65 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit 600’000 Franken. Und das, ohne eine weitere Einzahlung zu leisten.» Das mag etwas kühn gerechnet sein. Die Verdoppelung innert 15 Jahren setzt eine Rendite von etwa 5 Prozent voraus, was aber nicht unmöglich ist, falls man Risiken eingehen will und die Börse mitspielt. «Kein Wunder, nutzen die Eingeweihten alle Schlupflöcher», kommentiert Büsser.

Aber er hat Zweifel: «Als Journalist kann man sich fragen, ob man darüber berichten soll. Denn je mehr Leute davon erfahren, wie viel mehr Kapital sie wahrscheinlich ausserhalb der Pensionskasse ansparen könnten, desto mehr werden sich aus der beruflichen Vorsorge verabschieden. Das wiederum führt dazu, dass das Pensionskassensystem noch schlechter wird, nicht einmal mehr eines Grümpelturniers würdig. Wenn sehr viele das System verlassen, bricht es sogar zusammen.» Was nun wieder nicht zwingend und sogar ziemlich übertrieben ist. Weniger Geld heisst auch weniger Leistungsverpflichtungen. Es gibt einfach ein neues Gleichgewicht, resp. unter den gegebenen Bedingungen ein Ungleichgewicht auf tieferem Niveau. Die Eingeweihten bringen das System nicht zu Fall.

Trotz seiner Bedenken hat sich Harry Büsser entschlossen, die Botschaft der Eingeweihten zu verkünden. Was niemanden überrascht; schliesslich ist er Journalist und nicht Geheimagent. Wer in der Branche tätig ist, weiss längst wie es geht. Statt beim Stellenwechsel sein FZ-Guthaben in die neue Kasse einzubringen, überlässt man es einer Freizügigkeitsstiftung, die eine Anlage mit hohem Aktienanteil bietet. Büsser schreibt von «Freizügigkeitsdepots», wie sie sie Viac und Descartes Vorsorge anbieten.

Das ist zwar gegen die guten Sitten und auch gegen das Gesetz. Aber die Pensionskassen rennen dem Geld der Neueintretenden in der Regel nicht ewig hinterher. Es wird ein Brief mit der Aufforderung zur Übertragung des Guthabens verschickt, vielleicht ein zweiter, ev. eingeschrieben. Aber dann hat es sich meist. Und es ist kein Fall bekannt, bei welchem ein renitenter Versicherter belangt worden wäre, weil er das Geld anderweitig eingebracht hat. Büsser gibt noch ein paar zusätzliche Tipps, wie man vorgehen soll. Aber mit der Magie der Eingeweihten ist es nicht so weit her. Es geht einfacher als gedacht.

Was an dieser Stelle interessiert, sind nicht die Details zum Vorgehen und auch nicht die Tatsache, dass ein tiefes Altersguthaben auch seine Nachteile hat und natürlich die Verrentung wegfällt. Was hier interessiert, ist die Tatsache, dass die Pensionskasse als kollektives Spargefäss mit all seinen potenziellen Vorteilen für den Versicherten als Sparer und Anleger zunehmend an Attraktivität einbüsst. Nicht nur bei den Jungen. Büsser wendet sich an eine Leserschaft fortgeschrittenen Alters mit grösseren Guthaben. Seine Kritik am System ist in einem Satz zusammengefasst: «Aus der zweiten Säule, in der nach dem Kapitaldeckungsverfahren jeder selber für sein Alter vorsorgt, ist eine Umverteilungsmaschinerie geworden.»

Das ist übertrieben, vor allem aber zu kurz gegriffen. Schwerer ins Gewicht fällt, dass es in vielen Fällen objektiv eine Zumutung darstellt, ein grösseres FZ-Guthaben in eine Kasse einzubringen. Ist die Kasse knapp finanziert, mit hohem Rentneranteil und eventuell noch in einer strukturschwachen Branche angesiedelt, kann man kaum mit gutem Gewissen empfehlen, ihr grössere Summen anzuvertrauen, trotz aller Garantien. Erst recht nicht, wenn sie in Unterdeckung ist. Konrad Niklewicz und Peter Zanella haben in jüngerer Vergangenheit auf die desolate Situation der Versicherten in Kassen mit hohem Rentnerbestand verwiesen und Vorschläge zur Lösung der Probleme präsentiert. Doch das hat kaum interessiert. In den diversen Vorschlägen zur BVG-Revision wird das Problem nicht einmal am Rande erwähnt.

Auch wenn nur wenige dem von Büsser vorgezeichneten Weg folgen und an seinem Artikel vieles auszusetzen ist, muss er als Warnzeichen verstanden werden. Wie kann das System gedeihen, wenn das Vertrauen fehlt und die Leute Reissaus nehmen?

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Obwohl der Kommentar bereits wieder zu lang zu werden droht, drängt sich noch eine Bemerkung auf. In der vergangenen Woche hat die Kammer der PK-Experten ihre Vorgaben für den technischen Zins 2020 abgegeben. Bei Verwendung einer Generationentafel sind es 1,98, mit Periodentafel 1,68 Prozent. Kassen, die davon abweichen, benötigen eine Begründung durch den Experten. Mit anderen Worten, die Werte sind mehr oder weniger verbindlich.

Auch wenn die Formel der FRP4 weiterhin eine Dosis «Voodoo» enthält, sind sie doch einigermassen plausibel. Nicht plausibel ist es allerdings, wenn gleichzeitig und nun zwingend der Mindestumwandlungssatz weiterhin und wohl noch für einige Zeit bei 6,8 Prozent verharrt. Die technischen Zinssätze wie verordnet reichen aber bestenfalls für einen UWS von rund 4,5 Prozent.

Gemessen am offiziellen Satz für den technischen Zins beträgt der Umwandlungssatz damit das 1,5fache des aktuarisch Möglichen. Aber die Immunisierung gegen solcherlei Absurdität scheint bereits soweit fortgeschritten, dass das kaum mehr auffällt.

Peter Wirth, E-Mail