Zum Glück haben wir die Berge. Bei Hitzewellen, wie sie uns neuerdings heimsuchen, bieten sie die erwünschte Abkühlung, zudem eröffnen ihre Gipfel neue Perspektiven und einen erweiterten Horizont. Kein Ort also wäre besser geeignet, eine Diskussion über die Revision des BVG zu führen, so man denn die Absicht hat, die ausgefahrenen Gleise zu verlassen.

So geschehen an einem der heissesten Tage dieses Sommers auf einem Berg namens Ämpächli, der zuvor dem Schreibenden so unbekannt war wie wahrscheinlich der Mehrheit der Leser. Auf eben diesem Ämpächli, zu erreichen gottlob mit einem Seilbähnli, trafen sich Ende Juli Toni Bortoluzzi, Präsident des Vorsorgeforums, der Geschäftsführer sowie zwei weitere Herren, die nicht nur ihr Engagement für die 2. Säule entdeckten, sondern darüber hinaus offenkundig den Drang verspüren, sich für eine grundlegende Reform zu engagieren.

Dass sie gleichzeitig auch Vorschläge für einen Demographiefonds zur AHV entwickelten, nehmen wir als Hinweis auf ihren bemerkenswerten Ehrgeiz, gleich die ganze Altersvorsorge zu reformieren, konzentrieren uns aber hier auf die berufliche Vorsorge. Sie stand auf dem Ämpächli auch im Zentrum eines angeregten Gesprächs.

Dass die beiden nicht schon jahrzehntelang als «Pensionskässeler» aktiv sind, ist für das Auffinden neuer Wege bei der Altersvorsorge wohl von Vorteil. Die Habitués der Szene wissen nur allzu gut, was alles nicht möglich ist und schrecken deshalb vor kühnen, weil neuen Ideen schnell zurück. Solche Selbstbeschränkung ist unseren Gesprächspartnern fremd. Erich Wintsch, Initiant des Projekts, kommt aus der IT-Branche und ist CEO von Finaware, sein Mitstreiter Fred Siegrist ist im Finanzsektor aktiv. Gemeinsam haben sie den Verein «Faire Vorsorge» gegründet. Und was sie mit ihrem Reformvorschlag durchsetzen wollen, ist nichts weniger als eine radikale Umkehr von den zentralen Prinzipien des heutigen Systems, ohne aber seine institutionelle Struktur aufzugeben.

Was an ihrem Vorschlag zuerst auffällt, ist der nach geltenden Massstäben blasphemisch anmutende Verzicht auf den gesetzlichen Mindest-Umwandlungssatz, dem Zentralgestirn aller Versuche für eine BVG-Revision und liebstes Spielzeug der Politik, wenn es um das BVG geht. Es soll auch keine gesetzliche Mindestverzinsung samt dem dazugehörigen, jährlich stattfindenden Spektakel zur bundesrätlichen Festlegung mehr geben.

Nicht genug damit, auch der Koordinationsabzug und die Eintrittsschwelle werden gestrichen. Die Rentengarantie, der geheiligte Anspruch auf die nominell gesprochene Rente, wird ebenfalls in Frage gestellt. Garantiert wird lediglich das angesparte Kapital mit Nullverzinsung. Was bedeutet, die Rente würde als ein nach Jahren berechneter Anteil des bestehenden Altersguthabens plus dem darauf anfallenden, jeweiligen Ertrag ausbezahlt. Eine Kapitalauszahlung soll es nur noch im Umfang der Rente für eine Fünfjahresperiode geben.

Damit soll u.a. erreicht werden: Wegfall der Umverteilung und aller ungewollten Solidaritäten, Flexibilität der Renten nach Lage auf den Kapitalmärkten mit einem garantierten Sockelbetrag – sozusagen Wackelrente light, Verzicht auf eine politisch schwer durchsetzbare Erhöhung des Rentenalters, Wegfall des einmaligen und unumkehrbaren Entscheids für Rente oder Kapital, der die meisten Versicherten überfordert.

Das ist auch in der frischen Alpenluft noch schwere Kost. Und die beiden Vertreter des Vorsorgeforums gaben sich alle Mühe, sich weder von der Aussicht auf die Alpen noch ihren Meringue Glacés allzu sehr ablenken zu lassen und die Fairen Vorsorger auf die Schwachstellen ihres Konzepts festzunageln.

Wintsch und Siegrist aber haben offenbar auf alles eine Antwort. Eine als Quotient aus Altersguthaben und Anzahl Bezugsjahre definierte Rente setzt die Kenntnis der Dauer der Auszahlung voraus, die man aber nicht kennt. Das Problem wird gelöst durch die zeitliche Begrenzung der PK-Rente bis Alter 90. Die folgenden Rentenzahlungen, falls der Pensionär länger lebt, werden kollektiv finanziert durch eine Einmalprämie aller Versicherten. Das soll zwischen 1 und 1,3 Prozent des Guthabens kosten.

In Zeiten der Negativzinsen ist bekanntlich auch ein Nullzins nicht gratis zu haben. Was er resp. die Kapitalgarantie tatsächlich kostet, ist nicht ganz einfach zu bestimmen, sowenig wie der korrekte Umwandlungssatz (den es bekanntlich nicht gibt). Auf Basis der letzten 10 bis 20 Jahre sollten 1 bis 1,5 Prozent für den Kapitalschutz als Einmalprämie ausreichen, wird geschätzt. Aber diese Zahlen sind nicht abschliessend berechnet.

Wie steht es mit der Hinterlassenenrente? Wie ist deren Höhe zu berechnen? Antwort: gar nicht. Sie wird kurzerhand abgeschafft. Die zeitgeistige ergo gendergerechte Problemlösung besteht darin, den PK-Anspruch gleich wie bei Scheidung in zwei gleiche Leistungsansprüche umzuwandeln. Das tönt im Jahre des Frauenstreiks gut, dürfte aber nicht in jedem Falle einfach zu akzeptieren sein.

Einiges haben sich die Erfinder zu den Themen Vererbung der Ansprüche, Kinder- und Waisenrenten, die Verwendung der als «Dividende» bezeichneten Kapitalerträge (Auszahlung oder Wiederanlage) sowie die Festlegung der Altersgutschriften ausgedacht. Letztere sollen laut Plan auf 12 Prozent für die ganze Beitragsdauer fixiert werden, wobei der Anteil des Arbeitgebers zwischen 9 Prozentpunkten zu Beginn der Versicherung im Alter 18 und noch 3 Prozent für die über 60-jährigen variiert, was als Beispiel für die Aufteilung zu verstehen ist. Welche aber als Prinzip die angebliche Benachteiligung älterer Arbeitnehmer aufgrund der heute höheren PK-Beiträge praktisch in ihr Gegenteil verkehrt.

Weil es keinen Koordinationsabzug mehr gibt, sollte auch der ansonsten schwierige Übergang von der heutigen Skala der Altersgutschriften zum Einheitssatz machbar sein. Fünf, sechs Jahre sollten reichen, wird uns gesagt, um bestehende Beitragslücken zu füllen. Allerdings kostet der Verzicht auf den KA, und das nicht zu knapp. Die Rechnungen dazu sind in den Unterlagen des Vereins zu finden.

Damit sind nur die wichtigsten Elemente des Projekts skizziert. Im Arbeitspapier des Vereins gibt es zusätzliche Kapitel mit den Überschriften «Katalog weiterer möglicher Reformelemente», «Wünschbar, da ebenfalls vorteilhaft» oder «Zurückstellen für später». Man darf feststellen, an Ideen mangelt es nicht.

Kommt das System ohne Erhöhung des Rentenalters aus, was ja vielfach als Voraussetzung für die Stabilisierung der Altersvorsorge angesichts steigender Lebenserwartung gesehen wird? Der Punkt liegt unserem Präsidenten am Herzen und wurde auch an dieser Stelle x-fach betont. Allerdings wird durch die simple Rentenberechnung ohne Kapitalerträge das Problem elegant umgangen. In der Tat ist das Altersguthaben in jedem Zeitpunkt so hoch wie es nun einmal ist und mit dem gesetzten Endalter 90 ist die Basisrente eindeutig zu bestimmen. Das geht mit Alter 40 so gut wie mit 70. Die Finanzierung ist in jedem Moment gesichert.

Bei der AHV ist es nun wiederum eine andere Geschichte und primär deren Problem, wie es sich angesichts des massiven Widerstands gegen jegliche Rentenalter-Erhöhung zeigt. Ausser man holt sich das Geld bei der SNB, wo es davon reichlich gibt.

Nun mag man natürlich die politische Machbarkeit einer so tiefgreifenden Reform anzweifeln. Aber es sind bekanntlich schon weit bescheidenere Vorhaben gescheitert, incl. eine Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6,4 Prozent, aus heutiger Sicht Peanuts, damals aber Anlass zu Empörungsorgien auf Gewerkschaftsseite (siehe Rentenklau). Also könnte man es zur Abwechslung einmal mit einer richtigen Revision versuchen. Einzelne Teile, so wird uns versichert, könnten modular und in Einzelschritten umgesetzt werden. Der Politiker am Tisch hat aufgrund langer Erfahrung seine Zweifel. Aber technisch durchführbar scheint das Projekt. Und Vorteile gegenüber dem Status Quo lassen sich für beide Seiten der Sozialpartner ausmachen.

Jedenfalls verlässt das Quartett am frühen Abend guter Stimmung das Ämpächli. Man hat sich intensiv ausgetauscht, beidseits (hoffentlich) etwas gelernt. Nach all den eher bescheidenen bis ängstlichen Revisionsansätzen ein erfrischend neues Konzept. Höhenluft tut eben gut.

Peter Wirth, E-Mail

PS 1. Eine ausführliche Darstellung des Modells plus eine Zusammenfassung ist zu finden auf unserer Übersichtsseite über die vorliegenden Reformvorschläge unter BVG-Reform 2022. Die Homepage des Vereins Faire Vorsorge findet sich hier.
PS 2. Einen Schritt in Richtung der Vorschläge des Vereins «Faire Vorsorge» macht die Vita  Invest, die in ihrer Sammelstiftung ebenfalls eine Sockelrente auf Basis einer garantieren Null-Verzinsung des Altersguthabens einführen wird. Allerdings will (und kann sie wohl auch nicht) auf die Festlegung eines Umwandlungssatzes verzichten, der aber mit 3,7 Prozent sehr vorsichtig ausfällt.