In einem bissigen Kommentar geisselt die NZZ das Vorgehen des Nationalrats mit der Kehrtwende bei der IV-Revision. Das Blatt hält fest: Die Schweiz ist stolz auf ihre direktdemokratische Tradition. Andere heilige Kühe werden geschlachtet. Als unantastbar gilt aber, dass im Lande Tells der Souverän das letzte Wort hat. Diesem staatspolitischen Grundsatz werde auch unter der Kuppel des Bundeshauses nachgelebt, glaubten wir bis dato. Doch jetzt glauben wir das nicht mehr.

Dass der Nationalrat darauf verzichtet hat, bei der Invalidenversicherung die Sparschraube zu betätigen, ist ein parlamentarisches Schelmenstück auf dem Buckel der direkten Demokratie. Als nämlich das Stimmvolk am 27. September 2009 zur Urne gerufen wurde, um die Mehrwertsteuer von 7,6 auf 8 Prozent anzuheben, wurde diese Massnahme mit einem glasklaren Versprechen verknüpft. Parallel zu der bis Ende 2017 befristeten Zusatzfinanzierung würden «neue sozialverträgliche Sanierungsmassnahmen eingeführt mit dem Ziel, die Rechnung der IV auf Dauer ins Lot zu bringen». So stand es schwarz auf weiss im Abstimmungsbüchlein des Bundesrats.

Am Mittwoch dachte sich die rot-grün-christlich-evangelisch-grünliberale Mehrheit im Nationalrat: Was kümmert uns das Geschwätz von gestern? Das ist bedenklich, wenn nicht skandalös. Der Souverän muss konstatieren, dass politische Versprechen im Bundeshaus nichts gelten. Der Verstoss gegen Treu und Glauben, den der Nationalrat bei der IV vorexerziert hat, unterspült das Vertrauen in die politischen Institutionen. Kommt dazu, dass auch der zuständige Bundesrat leichtfertig mitgeschwommen ist.

Alain Berset war vor drei Jahren noch nicht Bundesrat. Trotzdem hätte das Siebnergremium niemals zulassen dürfen, dass der neue Sozialminister mithilft, das Stimmvolk zu verschaukeln.

  NZZ