Zwei Jungparteien haben massgeblich im Abstimmungskampf mitgemischt: die Jungfreisinnigen und die Jungsolzialisten. Beide haben gewonnen; doch sie liegen in ihren Zielen meilenweit voneinander entfernt. Auf Seite der Jungsozis rebelliert Tamara Funicielle gegen die Mutterpartei. Bei den Freisinnigen lieferte Andri Silberschmidt entscheidende Punkte.
AV2020
Hubacher: “Am Zückerchen gescheitert”
Der Blick hat den Altlinken Helmut Hubacher zur Abstimmung befragt:
Die Altersvorsorge ist eines der Kernthemen der SP, ausgerechnet hier vertraut das Volk der Linken nicht. Was machen Ihre Genossen falsch?
Helmut Hubacher: Ich bin sehr enttäuscht. Aber das Nein zu dieser Reform ist kein linkes Versagen. Auch die FDP hat 2004 mit Bundesrat Couchepin und 2010 mit Burkhalter ein Nein kassiert. Diese Vorlage ist vom Volk wegen des AHV-Ausbaus nicht goutiert worden, sie ist am «Zückerchen 70 Franken» gescheitert. Diese Rentenerhöhung hatte Alain Berset in der ursprünglichen Vorlage nicht drin. Das Abstimmungsergebnis erinnert mich an das Nein des Volkes zu einer Woche mehr Ferien. Die Schweizer Mentalität lehnt sogar Geschenke ab. Im Ausland versteht man das nicht.
Ist das Abstimmungsresultat nicht auch ein Nein zum Frauenrentenalter 65?
Das hat sicher eine Rolle gespielt. Man vergisst oft, dass 1948 das Rentenalter 65 für Mann und Frau entschieden wurde. Die Frau war damals aber als Anhängsel des Mannes in der Altersvorsorge sehr benachteiligt, darum hat Bundesrat Tschudi das Rentenalter für Frauen reduziert. Heute leben wir aber alle länger, und das kostet – ich bin mit 91 ja das beste Beispiel.
Hat Bundesrat Berset zu viel gewollt, indem er die AHV und die Pensionskasse als Paket reformieren wollte?
Das muss man erst noch genau analysieren. Ich nehme zur Kenntnis, dass auch die SVP die Renten nicht kürzen will. Sicher ist: Die AHV braucht jetzt dringend Geld. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt spricht jetzt schon von Rentenalter 67, das hat niemals Chancen beim Volk! Unsere Wirtschaft ist nicht bereit, Leute ab 55 anzustellen, und Vogt will eine Erhöhung des Rentenalters – das ist doch absurd. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder, da werden wir doch – gopfertori! – unsere AHV finanzieren können.
PK-Netz: “Ein Scherbenhaufen”
Urban Hodel, Sekretär des PK-Netz, kommentiert den Abstimmungsausgang:
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Verspekuliert haben sich bei der Altersvorsorge 2020 fast alle Akteure, es gibt somit keine wirklichen Gewinner, ausser die Banken und Versicherungen, die nach der Abstimmung auf noch bessere Geschäfte mit der privaten Vorsorge hoffen: „Die Jungen müssen ihre Vorsorge selbst in die Hand nehmen. Sie sollten das Maximum in die 3. Säule einzahlen“, so sagte Martin Janssen am Tag nach der Abstimmung gegenüber der Handelszeitung.
Janssen selbst ist Besitzer von Ecofin, einer grossen Finanzdienstleistungsfirma. Nun können sie das verhinderte „Zückerchen“ im eigenen Schleckwarengeschäft feiern, Ostern und Weihnachten zusammen, und hoffen, dass sich die Sozialpartner und die Politik möglichst lange uneinig sein werden – Unsicherheit und Verunsicherung beleben das Geschäft. Dabei ist es nicht nur das Interesse der Arbeitnehmenden, dass ihr Einkommen nicht in der teuren privaten Vorsorge versickert. Auch die Arbeitgeber und die Pensionskassen sollten ein vitales Interesse daran haben, dass unsere Renten aus unseren Sozialversicherungen kommen.
VPS: “Ein Pyrrhussieg”
Der VPS-Verlag hat eine Sonderausgabe der Schweizer Personalvorsorge zum Ausgang der AV2020-Abstimmung publiziert und online gestellt. Die VPS-Redaktion hat die Vorlage stark mitgetragen, der Ausgang wird entsprechend kommentiert.
Chefredaktor Kaspar Hohler schreibt in seinem Editorial:
“Nicht nur sind die Gewinner der Abstimmung und ihre Forderungen extrem heterogen. Sie haben für ihren Sieg auch einen hohen Preis in Kauf genommen: Es war eine seltene Chance für das Vorsorgesystem, dass eine Erhöhung des Rentenalters und eine Senkung des Umwandlungssatzes von grossen Teilen der Gewerkschaften und der politischen Linken mitgetragen wurden. Es ist, gelinde gesagt, höchst zweifelhaft, ob sie dies nochmals tun werden. Während Linke und Gewerkschaften bereits in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie Altersvorsorgevorlagen zu Fall bringen können, taten dies am Sonntag auch Rechte und Arbeitgeber. Umso ratloser hinter – lässt einen die Frage, wer denn noch ein entsprechendes Paket durchbringen kann.”
ASIP-Präsident Jean-Rémy Roulet sagt in einem Interview:
L’ASIP continue à soutenir une vision globale de la prévoyance, mais elle réclame une concentration sur certaines priorités. La nouvelle version de la réforme, susceptible de réunir une majorité, devra être mesurée, ne pas mettre à mal les capacités financières des assurés et des employeurs, ni augmenter les frais administratifs des caisses de pension.”
TA: Wie die Bürgerlichen die nächste AHV-Reform gewinnen
Philipp Loser und Alan Cassidy geben in ihrem Artikel im Tages-Anzeiger ein Stimmungsbild nach der verlorenen Abstimmung.
Der Rechtsrutsch ist eine Tatsache. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns in diesem Rahmen zu bewegen .» Im Fall der Rentenform bedeutet «konstruktive Opposition» das Beharren auf den neuen roten Linien, die Levrat seit Sonntag mantramässig wiederholt. Keine Rentensenkungen, keine allgemeine Erhöhung des Rentenalters, keine Angleichung des Frauenrentenalters ohne Kompensation. Alles, was darüber hinausgeht, einen «reinen Abbau» wird die SP «frontal bekämpfen». «Unsere Gestaltungskraft mag nicht so gross sein, wie wir uns das wünschen. Unsere Vetokraft ist aber ungebrochen», sagt Levrat.
Wie diese neue Reform aussehen wird, hängt massgeblich von Bundesrat Alain Berset ab. Er ist die tragische Figur des Abstimmungskampfes, und man stelle sich vor, wie viel einfacher es für ihn und die SP heute wäre, hätte er vergangene Woche das Departement gewechselt. Nun bleibt er Innenminister und hat die Aufgabe, zu retten, was zu retten ist. Bersets grösste Herausforderung wird dabei sein, möglichst schnell wieder eine Vorlage zu präsentieren.
Die grösste Angst der Linken ist nämlich nicht eine «Abbaureform» von rechts, wie sie es in ihren Mitteilungen nennen. Eine solche Vorlage kann man bekämpfen, eine solche Abstimmung gewinnen. Die viel grössere Angst von links ist es, dass nun gar nichts passiert. Dass die Bürgerlichen einfach warten, bis die Demografie ihnen die Arbeit abnimmt und der AHV-Fonds leer ist. Bis nichts mehr übrig bleibt als die Frage: Rentenalter 67 für alle? Oder lieber Renten kürzen? Um das zu erreichen, müssen die Bürgerlichen in den nächsten Jahren genau etwas machen: nichts. Und dagegen ist kaum zu kämpfen. Weder im Parlament noch auf der Strasse
“Unfähige Sieger”
Urs Paul Engeler kommentiert in der Basler Zeitung den Ausgang der Abstimmung zur AV2020 und die Reaktionen der Abstimmungsgewinner.
Zwar waren die beiden bürgerlichen Parteien mit dem Slogan «Kein Ausbau der AHV» gegen die Rentenreform 2020 angetreten. Doch Minuten nach dem Sieg an der Urne verkündet die SVP, sich dafür stark zu machen, dass «das gesamte Demografie-Prozent der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV oder die 0,3 Prozent Mehrwertsteuer aus der IV-Zusatzfinanzierung unverzüglich» beschlossen werden.
Die Partei, die für Steuersenkungen eintritt, ist so bereit, pro Jahr rund 3,5 Milliarden Franken zusätzlich in die AHV zu pumpen. Und FDP-Präsidentin Petra Gössi raunt in die Mikrofone, die weniger deutliche Ablehnung der Mehrwertsteuer-Erhöhung eröffne wohl Möglichkeiten, diese in einem zweiten Anlauf doch zu heraufzusetzen.
So devot kriechen die Gewinner auf den sozialistisch-etatistischen Verlierer-Verbund von CVP, SP und Grünen zu. Unfähigere Sieger waren wahrlich selten zu sehen.
Damit ist die Gelegenheit bereits verpasst, dem staatlich organisierten und nicht mehr finanzierbaren Rentenzwang liberalere Ansätze und Lösungen entgegenzusetzen. Hauptziel der verbliebenen beiden bürgerlichen Parteien müsste es doch sein, die selbstverantwortete private Vorsorge zu stärken. Doch kein Wort war zu hören zur eigenständig aufbaubaren dritten Säule, kein Vorschlag zu vernehmen, diese zu stärken, etwa durch die Erhöhung der Beitragslimiten oder eine Steuerbefreiung beim Bezug des angesparten Kapitals. (…)
Wenn selbst bürgerliche Politiker es nicht schaffen, sich wenigstens gedanklich aus dem vorgegebenen staatlichen Rentenkorsett zu befreien, wird auch die nächste Rentenreform ein sehr, sehr teurer sozialistischer Ausbau sein.
NZZ: “PKs müssen sich selber helfen”
Hansueli Schöchli analysiert die unmittelbaren Folgen der Neins zur AV2020 für die Pensionskassen und skizziert erste Ideen für einen teilvariablen Umwandlungssatz:
Zurzeit ist völlig offen, wie lange die politische Blockade in der beruflichen Vorsorge anhalten wird. Aus Kreisen der Abstimmungsgewinner war am Montag eine Idee zu hören, welche den Streit auflösen soll. Demnach würde das Minimum des gesetzlichen Umwandlungssatzes von 6,8 Prozent statt auf 6,0 Prozent zum Beispiel nur auf 6,2 oder 6,3 Prozent fallen; dazu gäbe es aber für Vorsorgeeinrichtungen mit klar ausgewiesenen Problemen eine Ausnahmeklausel mit einer möglichen Senkung um zum Beispiel weitere 0,5 Prozentpunkte – sofern ein unabhängiges Gremium wie etwa die Oberaufsicht der beruflichen Vorsorge dies gutheisst. Man müsse alle Ideen anschauen, sagt dazu die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel. Auf den ersten Blick bezweifle sie allerdings, dass dieser Vorschlag mehr bringe als nur zusätzliche Bürokratie.
TA: “Bersets «Übereifer» und die Folgen”
War das noch Information oder schon Propaganda? Welche Rolle der SP-Bundesrat im Abstimmungskampf zur Rentenreform hatte beschreibt Stefan Häme im Tages-Anzeiger.
Nachdem er in den letzten Wochen Dutzende von Auftritten absolviert und Interviews gegeben hatte, setzte Berset am Freitag zum Schlussspurt an. Per Twitter rief er dazu auf, ein Ja für die Rentenreform in die Urne zu legen.
Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten: «Meines Wissens ein Novum: Bundesrat ruft im Schlussspurt per Twitter zum Stimmen für Behördenpositionen auf», schrieb Claude Longchamp vom Forschungsinstitut GFS Bern. Der Aufruf hat einen grossen Empfängerkreis erreicht: Berset zählt mehr als 78’000 Follower.
Mittlerweile ist klar: Die Rentenreform ist gescheitert, und es stellt sich die Frage, inwieweit Berset diese Niederlage mitzuverantworten hat. Felix Schneuwly, Kommunikationschef des Vergleichsdienstes Comparis, bezeichnete Bersets «Ehrgeiz und Übereifer» bereits am Samstag als womöglich kontraproduktiv. Hat der Innenminister unschlüssige Stimmende namentlich aus der politischen Mitte «vertäubt», weil die Vorlage so eng mit seinem Namen und damit auch seiner Partei, der SP, verknüpft war? (…)
Junge und Frauen liessen Rentenreform abstürzen
Die Tamedia-Nachbefragung zeigt im Detail, wie das Nein zustande gekommen ist. Zwei Befunde stechen ins Auge: Sowohl die Jungen als auch die Frauen verweigerten dem Bundesrat ihre Gefolgschaft.
So stimmten nur 42 Prozent der Frauen der Reformvorlage zu, der am Sonntag gut 47 Prozent der Stimmbürger zustimmten. Würden nur Männer abstimmen, hätten dagegen beide Vorlagen das Volksmehr geschafft. Die markante Differenz bei den Geschlechtern deuten die Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen als Opposition der Frauen gegen die Erhöhung des Rentenalters.
Auch bei den jüngeren Stimmbürgern fielen die AHV-Vorlagen durch: Nur 43 Prozent der 18- bis 34-Jährigen stimmten der Reform und der Mehrwertsteuer-vorlage zu. Deutlich stärker war die Unterstützung bei den über 50-Jährigen und bei den Rentnern. Letztere nahmen die Rentenreform mit 53 Prozent Ja an.
Offensichtlich gewirkt hat die Kampagne der bürgerlichen Gegner: 84 Prozent der SVP-Wähler und 61 Prozent der FDP-Wähler legten ein Nein in die Urne. Bei der CVP-Basis folgten 2 von 5 Wählern ihrer Partei nicht und stimmten Nein. Bei SP und Grünen lehnten gut 25 Prozent der Wähler die Rentenreform ab.
Die Umfrage zeigt zudem einen klaren Stadt-Land-Graben. Städter haben die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Reform der Altersvorsorge angenommen (55% bzw. 53% Ja). Auf dem Land lag der Ja-Stimmen-Anteil markant tiefer (47% bzw. 43% Ja).
Gut kam die Reform der Altersvorsorge bei Personen mit einem Uni-Abschluss an: 63 Prozent der Akademiker sagten Ja. Stimmbürger, die eine Lehre oder ein Handelsdiplom als höchsten Abschluss haben, waren skeptischer: 60 Prozent stimmten Nein.
“Vorbilder für die Schweiz”
Die Handelszeitung hat Martin Janssen zur Abstimmung interviewt. Auszüge:
Welche Vorbilder gibt es für die Schweiz international?
Einst war die Schweiz selbst Vorbild. Jetzt aber sind viele Länder der Schweiz ein paar Schritte voraus. Schweden, Polen und auch einige Länder in Südamerika machen es heute besser. In Schweden etwa hat man bereits in den 1990er Jahren radikal umgebaut und automatische Stabilisatoren eingeführt. Diese halten das System längerfristig im Gleichgewicht. Solche Ideen täten der Schweiz heute gut.
Soll die private Vorsorge stärker gewichtet werden?
Wünschenswert für die Pensionskassen wären mehr Autonomie, mehr Freiheit und mehr Transparenz. Und mehr Wettbewerb würde dem System auch gut tun. In der dritten Säule braucht es viel tiefere Kosten, beispielsweise über weniger Zutrittsbarrieren. Es braucht aber ebenso viel mehr Transparenz.
Was raten Sie jungen Menschen nach dem Entscheid vom Sonntag?
Junge müssen ihre Vorsorge selbst in die Hand nehmen. So sollten sie das Maximum in die 3. Säule einzahlen und so auch von Steuerabzügen profitieren. Wenn immer möglich, sollten sie darüber hinaus weiter sparen und diversifizierte reale Aktiva, zum Beispiel Aktien, kaufen. Auch Unternehmer können oft einfacher vorsorgen. Damit können sie sich vor zukünftigen Veränderungen bei der Altersvorsorge schützen. Ansonsten könnten sie in Zukunft zu den Verlierern zählen.
Stimmen zur Abstimmung
Parteipäsidenten zur Abstimmung
Blick
Das Resultat von heute ist auch eine empfindliche Niederlage für Innenminister Alain Berset. Er hat alles auf eine Karte gesetzt und mit List und Taktik diese Vorlage durchs Parlament gepeitscht. Er nahm keine Rücksicht auf FDP und Wirtschaftsverbände. Das hat sich im Abstimmungskampf gerächt.
Die Gegner wollen jetzt schnell einen Plan B vorlegen. Wohl eine Reform mit Rentenalter 65 und ohne Abfederung. Dafür müsste die Mehrwertsteuer weniger stark steigen. Die Rentensenkung in der 2. Säule würde an gleicher Stelle kompensiert. Tönt einfach. Aber bringt das Konzept auch Erfolg? Gewinnt man damit eine Mehrheit vor dem Volk?
Jetzt ist FDP-Chefin Petra Gössi am Zug. Mit der neuen Mehrheit im Bundesrat kann sie eine reine Kürzungsvorlage durchboxen. Dann kann sie zeigen, ob das Volk beim Plan B wirklich auch mitmacht. Denn nur mit einem Ja dürfen sich die Gewinner von heute auch wirklich als Sieger fühlen. Sonst tragen sie die grosse Verantwortung dafür, dass die Rentenfinanzierung in eine noch viel schlimmere Schieflage gerät.
NZZ – Jetzt muss das Rentenalter steigen (Stalder)
Der Plan, die erste und die zweite Säule in einem grossen Wurf gemeinsam zu stabilisieren, hat sich als untauglich erwiesen. Die Vorlage war zu kompliziert, überladen, in den Folgewirkungen kaum mehr abschätzbar und vor allem mit einer zu grossen Anzahl von Mängeln befrachtet, so dass sie aus unterschiedlichen Richtungen angreifbar war und sich so die Motive für die Ablehnung kumulierten.
Die Stimmberechtigten haben gemerkt, dass die Reform die AHV nicht nachhaltig stabilisiert hätte, dass sie die Finanzierungsprobleme des wichtigsten Vorsorgewerks hinausgeschoben und gar noch verschärft hätte. Und dass sie auf Kosten der Jungen und der nachfolgenden Generationen gegangen wäre. Vor allem aber die Erhöhung der AHV-Renten für alle Neurentner um 70 Franken hat sich als zu grosse Belastung erwiesen. Dieser Zuschlag, von SP und CVP durchgepresst, hatte die Vorlage im Parlament vergiftet und eine breitere Unterstützung verhindert. Nun hat das Volk die Quittung für dieses «Diktat» ausgestellt.
NZZ
Basler Zeitung – Bersets Rückkehr zur Erde (Somm)
Das ist eine Niederlage, die Alain Berset (SP) verdient hat. Nie hat ein Bundesrat eine Vorlage derart offensiv, wenn nicht aufdringlich vertreten. Keiner ist so oft durch das Land getourt für seine AHV-Reform wie er, keiner hat so ungeniert gewarnt vor Sodom und Gomorra, wenn wir ihm nicht zustimmen, keiner hat sich so arrogant über jede Kritik hinweggesetzt, keiner hat sich je angemasst, den einen oder anderen gestandenen Wirtschaftsführer telefonisch auf Linie zu bringen, sollten sie sich das Recht herausgenommen haben, ihm zu widersprechen.
SVV: “Reform rasch aufgleisen”
Der Versicherungsverband kommentiert den Ausgang der Abstimmung wie folgt:
Die Reform der Altersvorsorge 2020, die das Stimmvolk heute abgelehnt hat, sah verschiedene Massnahmen zur vorübergehenden finanziellen Stabilisierung der Altersvorsorge vor. Dazu gehörten die Angleichung des Referenzrentenalters für Frauen und Männer auf 65 Jahre, die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,6 Prozentpunkte und die Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent. Diese Massnahmen sind aus Sicht des SVV unverzichtbar. Sie sind deshalb raschmöglichst wieder aufzunehmen und voranzutreiben.
Eine vorübergehende Stabilisierung der Altersvorsorge genügt jedoch nicht. Die Leistungen müssen auf lange Sicht gesichert werden. Wegen des demografischen Wandels ist zudem auch eine Diskussion über die Flexibilisierung des Pensionierungsalters unumgänglich. Für eine Flexibilisierung sollen wirksame Anreize geschaffen werden. Darüber hinaus müssen sowohl die AHV als auch die berufliche Vorsorge mit je eigenen Massnahmen nachhaltig ausgestaltet werden.
SGB: “Ein sozialpolitisch motiviertes Nein”
Der Gewerkschaftsbund schreibt zum Abstimmungsergebnis zur AV2020:
Viele heutige Rentnerinnen und Rentner haben Mühe, mit der Rente über die Runden zu kommen. Sie folgten dem Argument der Gegner, dass sie im Gegensatz zu den NeurentnerInnen keinen AHV-Zuschlag erhalten würden. Vor allem Frauen stimmten Nein, weil sie keine Erhöhung des Rentenalters akzeptieren konnten. Zumal die Frauen weniger verdienen als die Männer und die Probleme der älteren Arbeitnehmenden nicht gelöst sind. Dazu kam ein Protest gegen die Leistungssenkungen bei den Pensionskassen.
Das Nein zum Gesetz der Altersvorsorge 2020 zeigt, dass bedeutende sozialpolitische Argumente bei der Ablehnung eine entscheidende Rolle gespielt haben. Diese Probleme müssen gelöst werden. Der so genannte «Plan B» der Arbeitgeber ist damit bereits zum Vornherein gescheitert. Er löst kein einziges der Probleme und käme die Arbeitnehmenden teuer zu stehen.
Für die Gewerkschaften ist klar: Wer in der Schweiz eine Rente erhält, muss davon leben können. Deshalb kämpfen sie auch in Zukunft für gute AHV-Renten und eine gute Altersvorsorge. Leistungsabbau liegt nicht drin. Und: Die Probleme der älteren Arbeitnehmenden müssen gelöst werden. Bei den Frauen braucht es wirksame Instrumente, um die Lohngleichheit durchzusetzen.
Arbeitgeber: “Volk weist den Weg”
Der Arbeitgeberverband schreibt zur Ablehnung der AV2020:
Das Schweizer Stimmvolk hat nach der AHVplus-Initiative ein zweites Mal innert Jahresfrist Nein gesagt zu einem AHV-Ausbau mit der Giesskanne. Das Volk will keine Experimente mit unserer AHV, sondern die Renten auf heutigem Niveau sichern. Der Auftrag des Souverän an die Politik ist klar: Er will rasch eine echte Reform, welche die Renten nachhaltig sichert und die Altersvorsorge finanziell stabilisiert – ohne ungezielten und unverantwortlichen Ausbau.
Nun ist der Bundesrat gefordert, die Parteien und Sozialpartner zügig an einen Tisch zu bringen und innert weniger Monate eine neue Reform vorzulegen, damit die unbestrittenen Massnahmen auf 2020/2021 in Kraft gesetzt werden können. Um die AHV finanziell zu stabilisieren, braucht es das Rentenalter 65 für Mann und Frau sowie eine moderate Anhebung der Mehrwertsteuer. Darüber hinaus muss der Mindestumwandlungssatz gesenkt und mit Massnahmen innerhalb der beruflichen Vorsorge angemessen kompensiert werden. In diesen drei zentralen Punkten waren sich die vier Bundesratsparteien bisher einig. Auf dieser Grundlage kann rasch eine nachhaltige, breit abgestützte Reformvorlage ausgearbeitet werden.
Sofortiger Neustart, Umwandlungssatz entpolitisieren
Der Pensionskassenverband schreibt zum Ausgang der Abstimmung:
Der ASIP setzt sich weiterhin für realistische Eckwerte in der beruflichen Vorsorge ein, damit die abgegebenen Leistungsversprechen am Schluss auch eingehalten werden können. Die zunehmende Lebenserwartung und die sinkenden Renditen führen unbestritten zu einer wachsenden Quersubventionierung der Rentenbezüger zulasten der Beitragszahler. Eine Senkung des BVG-Umwandlungssatzes ist daher vor allem für BVG-nahe Pensionskassen dringend notwendig und muss umso höher ausfallen, je länger wir zuwarten. Viele Pensionskassen mit überobligatorischen Leistungen haben ihre Umwandlungssätze – wenn möglich verknüpft mit Ausgleichsmassnahmen – bereits gesenkt.
Der Umwandlungssatz ergibt sich rein rechnerisch aufgrund von Lebenserwartung und realistisch zu erwartender Rendite. Der ASIP als Fachverband fordert nun, dass diese Grösse inskünftig wie vor der BVG-Revision durch den Bundesrat auf der Basis eines periodisch zu verfassenden Berichtes festgelegt wird. Zusammen mit der Regelung des Koordinationsabzuges, der Altersgutschriften und des Beginns des Sparprozesses lassen sich Lösungen innerhalb der beruflichen Vorsorge finden, die das BVG-Leistungsniveau sicherstellen. Auch bezüglich der Regelung für die Übergangsgeneration ist eine praxistauglichere Lösung anzustreben.
Der ASIP unterstützt eine Gesamtbetrachtung der Altersvorsorge, fordert aber eine Fokussierung. Eine Neuauflage der Reform darf das „Fuder“ nicht überladen, die finanzielle Belastungsfähigkeit der Versicherten und Arbeitgeber nicht überfordern und letztlich die Verwaltungskosten der Pensionskassen nicht weiter aufblähen.